Kyotos Küche

Japan-Fans testen die einschlägigen Kenntnisse ihrer Gesprächspartner am elegantesten durch die beiläufige Erwähnung des Namens “Kyoto”. Folgt darauf reflexartig “-Protokoll”, kann man das Thema eigentlich einstellen. Wird stattdessen von Gärten und Tempeln, Schreinen und Palästen geschwärmt, sieht die Sache schon besser aus. Als wahrer Kenner aber erweist sich der, dem zu Kyoto nicht zuerst Klimapolitik oder Kulturgeschichte in den Sinn kommen, sondern das Wasser im Munde zusammenläuft.

Die japanische Küche gilt vielen als die vollkommenste der Welt. Sicher ist: Nirgendwo ist sie vollkommener als in Kyoto. Hier liegen die Wurzeln der japanischen Kultur, hier schlägt das “Nihon no Furusato”, das Herz Japans. Mehr als ein Jahrtausend als Sitz des kaiserlichen Hofes und Nabel der japanischen Zivilisation, lässt sich in Kyoto bis heute verdichteter als irgendwo sonst studieren, was die japanische Esskultur so einzigartig macht: die Vielfalt, die Verfeinerung. Mögen die Tokioter stolz sein auf Michelin-Sterne, nach den Maßstäben Kyotos ist Tokio kulinarisches Entwicklungsland.
Als Ausgangspunkt und Basislager für einen kulinarischen Streifzug durch die Kaiserstadt empfiehlt sich das Hotel “Hyatt Regency” direkt vis-à-vis des Nationalmuseums. Es verfügt über elegante – für japanische Verhältnisse geradezu großzügige – Zimmer in ansprechendem Design zwischen Moderne und Tradition. Wer sich unmittelbar nach der Ankunft kulinarisch akklimatisieren möchte, kann das unkompliziert an der exzellenten Sushi-Bar des Hotels tun. Bereits beim ersten Biss ist zu spüren: die Reisqualität, der Wasabi, die Sojasauce – all das hat nichts mit dem zu tun, was uns in Europa als Sushi angedreht wird. Vom Fisch ganz zu schweigen.
Und doch gilt Sushi den Kyotern bestenfalls als Imbiss, als ziemlich neumodischer Kram. Wer die historischen Vorläufer kennenlernen will, der sollte bei “Izuu” einkehren. In einem winzigen Holzhäuschen mit Papierschiebetür kümmern sich dort zwei reizende ältere Damen um ihr praktisch rein japanisches Publikum. Essen tun alle das Gleiche, die Spezialität des Hauses: marinierte Makrele, in Seetang gewickelt, auf gesäuertem Reis. Da Kyoto zu weit vom Meer entfernt liegt, um rohen Fisch in früheren Zeiten gefahrlos transportieren zu können, wurde dieser an der Küste gesäuert, mit antibakteriell wirkendem Ingwer belegt und luftdicht in Reis und Seetang verpackt – der Urvater des Sushi.
Ist roher Fisch auf Reis der populärste kulinarische Export Nippons, принадлежит “Tempura” zu den beliebtesten Importen. Von portugiesischen Missionaren im 16. Jahrhundert nach Japan gebracht, lässt sich in einem Tempura-Restaurant exemplarisch lernen, wie perfekt die japanische Küche durch Adaption und Verfeinerung selbst fetttriefende Plumpsküche in zarte Delikatessen verwandelt. Bei “Tempura Endo Yasaka” im alten Geisha-Viertel Gion sitzt man beim Bier am Tresen und bemerkt zunächst überrascht, dass dort zwar den ganzen Tag frittiert wird – aber nichts riecht. In einem glänzenden Kupferkessel wird vor den Augen des Gastes Öl bester Qualität erhitzt und sodann Garnelen, Spargel, Shiso-Blätter, kleine Fische, Süßkartoffeln oder Jacobsmuscheln in einer hauchfeinen Teighülle ausgebacken. Eines nach dem anderen auf Saugpapier dem Gast präsentiert und mit etwas Zitrone, Tee-Salz oder geriebenem Daikonrettich genossen, handelt es sich bei den knusprigen, goldgelben Gebilden um nicht weniger als große Kochkunst. Da das offene Geheimnis und die Grundvoraussetzung der japanischen Küche die Produktqualität ist, lohnt ein Besuch auf dem 400 Jahre alten, überdachten Nishiki-Straßenmarkt im Zentrum Kyotos. Dass die Japaner auch im kulinarischen Alltag keine Abstriche an der Qualität zulassen und äußerst kritische Kunden sind, erkennt leicht, wer die makellose Präsentation an den Ständen betrachtet. Ob Gemüse, Fisch, Tee, Gewürze oder Süßigkeiten – alles wirkt wie zur Auslage beim Juwelier drapiert. An mehr als hundert Ständen bietet der Markt vom perfekt geschmiedeten Messer bis zum eingelegten Seetang alles, was produktfixierte japanische Hausfrauen wünschen. Da das meiste im Vorbeigehen zu probieren und der Markt von vielen kleinen Imbissen durchzogen ist, kann man hier wunderbar lunchen: Roter Thunfisch mit Sesam am Stiel zum Beispiel, ein paar Muscheln vom Grill, lackierter Aal – die Marktstände bieten ein kulinarisches Niveau, dessen sich manches europäisches Spitzenrestaurant rühmen könnte! Auf gar keinen Fall darf man sich den Tofu entgehen lassen – er gilt als der beste des Landes. Aromatisch und cremig hat er keine Ähnlichkeit mit der lustfeindlichen Ökopampe, die wir eingeschweißt in unseren Bioläden finden.
Tofu ist auch Hauptbestandteil einer Spezialität der kulinarischen Tradition Kyotos: Der aus buddhistischer Lehre entstandene “shojin-ryori”. Ursprünglich für Pilger und Mönche kreiert, hat sich diese besondere Küche im Lauf der Jahrhunderte trotz ihrer äußerst eingeschränkten Zutatenliste – Reis, Gemüse, Tofu und wenige Gewürze – zur Feinkost entwickelt. Zum Kennenlernen besonders empfohlen: Das Restaurant “Daitoku-ji Ikkyu” in Nachbarschaft des prachtvollen Daitokuji Tempels. Seit über 500 Jahren serviert man hier in Tatami-Räumen Delikatessen wie eingelegten Senfspinat, Tofu mit Rapsblüten oder gewürzte Sojabohnenmilchhaut.
Vom Bescheidenen zum Exklusiven führt der Weg zur zweiten großen Schule der Kyoto-Küche: Kaiseki. Verwurzelt in der Teezeremonie des 16. Jahrhunderts bilden Kaiseki-Menüs heute den Höhepunkt der japanischen Esskultur. Am besten nähert man sich diesem kulinarischen Weltkulturerbe im Restaurant “Kikunoi” – einem der renommiertesten Japans. Eine Speisekarte existiert nicht, gegessen wird, was die Saison bietet. Nach Allergien und Abneigungen wird bei der Reservierung gefragt. Was innerhalb der nächsten zwei Stunden im achtgängigen Menü serviert wird, ist eine perfekte Abfolge saisonaler Produkte im optimalen Reifezustand von höchster Qualität. Sämtliche Zubereitungen dienen nur dazu, ihr Aroma, ihre Frische zu betonen. Wird beispielsweise Butterfisch mit Frühlingszwiebeln angekündigt, so besteht das Gericht tatsächlich nur aus etwas gegrilltem Fisch, zurückhaltend gewürzt, mit feinsten Frühlingszwiebelringen und einem einzelnen, makellosen Baumblatt zur Dekoration. Jahreszeit, Zubereitung und Präsentation gehen eine perfekte Verbindung ein. Auch wenn sich naturgemäß nicht alle Gerichte auf Anhieb der westlichen Zunge erschließen (gesäuerte Seegurke mit Jamswurzelschleim …), so erkennt auch der Laie sofort, dass er es hier mit Kochkunst von Weltniveau zu tun hat.
Genau dieses erlebt auch, wer sich in Kyoto wenigstens für eine Nacht in einem erstklassigen Ryokan, einer traditionellen japanischen Herberge, einmietet. Im Idealfall verbinden sich dort Essen und Schlaf, Notwendigkeit und Ästethik zu dem, was allen Japanern höchstes Ziel ist: vollendete Harmonie. In Kyoto trägt der Idealfall den Namen “Tawaraya”. 300 Jahre ist das Haus alt, geführt wird es seit zwölf Generationen von derselben Familie, bei nur 18 Zimmern kümmern sich 60 Angestellte um den Gast. Nach der Begrüßung mit grünem Tee und heißen Tüchern nimmt der Gast ein Bad, setzt sich später in seinem Zimmer auf den Tatamiboden und erwartet das Menü. Es herrscht absolute Ruhe, einziger Schmuck im Raum ist ein minimalistisches Ensemble aus Weiden und Blüten in einer Ecke. Draußen rauscht der Bambus im Garten, ein Wasserlauf glitzert im Mondlicht, Sashimi wird auf antikem Porzellan serviert. Dann enden alle Worte.
От:Welt.de
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