"Auch Schüchterne finden ihren Platz"

Nicht jeder ist ein Draufgänger. Viele Eltern möchten ihren Kindern Mut machen, ihnen vor allem in ungewohnten Situationen helfen, selbstbewusster zu werden. Aber ist ein Eingreifen auch wirklich sinnvoll?Schüchterne Kinder sehen sich unbekannte Situationen erst einmal aus sicherer Entfernung an. Ein völlig legitimes Verhalten, meinen Experten In wenigen Wochen stehen viele Kinder vor einer großen Herausforderung: dem Start in Kita oder Schule oder dem Wechsel in eine neue Klasse. Neben der Vorfreude bewegt viele Eltern die Sorge, wie sich ihre Kinder im neuen Umfeld behaupten werden. Denn zu Hause rotzfrech, bekommt der Nachwuchs in fremder Umgebung nicht selten kaum den Mund auf. Wie kann man das Selbstvertrauen von Kindern und Jugendlichen fördern, wie viel Zurückhaltung und Schüchternheit ist normal? Darüber sprach Gerlinde Schulte mit Robert Hagen, Leiter der Erziehungs- und Familienberatung der Caritas in Mitte. Berliner Morgenpost: Herr Hagen, welche Situationen sind für Kinder und Jugendliche besonders schwierig? Robert Hagen: Besonders der erste Schritt aus der Familie in das „richtige Leben“, in eine fremde Umgebung, ist gewaltig für ein Kind. Das ist meist, wenn es in eine Kita kommt. Es verlässt die vertraute, wohlwollende Umgebung und hat es nun mit nicht bekannten Akteuren und Regeln zu tun, die es verstehen und antizipieren lernen muss. Das kann Angst und Stress erzeugen und fordert eine große Anpassungsfähigkeit und Orientierungsleistung. Hier ist es wichtig, die Kinder vorzubereiten. In der Kita werden Regeln, soziales Verhalten, Beobachtungs- und Einfühlungsvermögen benötigt und entwickelt. Diese Erfahrungen helfen, andere wichtige Schwellensituationen, wie z.B. die Einschulung besser zu bewältigen. Wenn die erste Eingewöhnung in eine außerfamiliäre Lebenswelt misslingt oder traumatisch verläuft, hat das Konsequenzen für das Gelingen des Übergangs in die Schule. Berliner Morgenpost: Was ist Schüchternheit überhaupt? Robert Hagen: Das Temperament ist zwar angeboren aber noch keine Persönlichkeitseigenschaft. Es gibt Kinder die sind eher ängstlich/vorsichtig andere gehen eher temperamentvoll ans Leben. In beiden Fällen geht es darum, eine angstbesetzte Übergangssituation zu bewältigen – denn Angst vor dem Unbekannten haben alle – nur andere Bewältigungstrategien. Ängstlich vorsichtige Kinder halten sich zunächst zurück und beobachten sehr genau, um entsprechend reagieren zu können. Das ist eine völlig legitime Art, sich in neuen Situationen zu orientieren. Problematisch wird es nur, wenn eine größere Verunsicherung oder gar eine Angstblockade mit anderen Ursachen vorliegen. Berliner Morgenpost: Welcher Grad von Zurückhaltung und Schüchternheit ist angemessen? Ab wann weist Schüchternheit auf ein mangelndes Selbstwertgefühl hin? Robert Hagen: Das Selbstwertgefühl hat mit dem Grundgefühl zu tun, dass Kindern in der Familie vermittelt wird. Bin ich auch liebenswert, wenn ich manchmal etwas falsch mache? Diese Bindungserfahrung und Rückmeldungen auf sein Verhalten, sind sehr wichtig für Kinder. Wenn es eine klare, realistische und liebevolle, bedingungslose Zuwendung erlebt hat, entwickelt es das nötige Urvertrauen. Das ist eine wichtige Grundlage für ein stabiles Selbstwirksamkeitsgefühl. Schüchternheit ist eher eine Strategie. Fehlendes Selbstwertgefühl ist eine starke innere Verunsicherung. Nicht alle Kinder haben eine sichere Bindung erfahren und wer keine emotionale Sicherheit erlebt hat, hat oft ein labileres Selbstwertgefühl. Berliner Morgenpost: Wann sind Kinder besonders anfällig für Selbstzweifel und Unsicherheit? Robert Hagen: Beim Übergang vom Säuglings- zum Kleinkindalter, wenn es lernen muss, dass nicht alles nur nach seinen Bedürfnissen geht, und die Eltern Grenzen setzen müssen. Das ist für Kinder sehr schwierig zu akzeptieren und auch zu antizipieren. Das Kind muss in diesem Lernprozess das Gefühl haben, geliebt zu werden. Wenn Kinder das nicht zu Hause lernen, wird es für sie in der Kita sehr schwierig, denn für solche komplexen Prozesse haben die Erzieher nicht ausreichend Zeit. Kritische Situationen sind auch Schulwechsel. Wenn ein Kind in einer Schule untergeht, ist die Umschulung manchmal unvermeidlich aber ein zusätzlicher Stressfaktor. Schwierig ist auch die Pubertät, in der ein Kind seine Autonomie entwickelt. Berliner Morgenpost: Und woher kommt ein gesundes Selbstbewusstsein? Ist es angeboren? Robert Hagen: Nein, die frühen Bindungserfahrungen spielen eine Rolle. Die Entwicklung eines gesunden Selbstvertrauens wird durch schwierige Bindungserfahrungen kompliziert. Das wird oft erst bei solchen Schwellenerfahrungen erkennbar. Auch bei Ärger oder Streit muss sich ein Kind darauf verlassen können, dass es geliebt wird – auch wenn es in der Auseinandersetzung mit den Eltern lernen muss, dass es Fehler macht und dass es auch Bedürfnisse anderer respektieren muss. Das Kind braucht eine sichere Basis, um ein gesundes Erkundungsverhalten zu entwickeln. Berliner Morgenpost: Können die Eltern gezielt das Selbstbewusstsein fördern und stärken? Robert Hagen: Wenn ein Kind in die Schule kommt und sich Eltern Sorgen machen, sollten sie dies ernst nehmen und um Gespräche mit den Lehrern bitten und sich regelmäßig Bericht über die Entwicklung des Kindes erstatten lassen. Dann schaut meist auch der Lehrer genauer hin. Man kann sich darüber austauschen, was das Kind gut kann und ihm Situationen für kleine Erfolgserlebnisse ermöglichen. Malt es zum Beispiel gern, kann es mal ein Bild in der Klasse präsentieren. Das Kind bekommt dann Aufmerksamkeit, die auch von den Eltern gewürdigt und verstärkt wird. Selbst wenn ihr Kind mit rotem Kopf dabeigesessen hat, wird es sich daran später erinnern. So entwickelt sich das Selbstwirksamkeitsgefühl. Berliner Morgenpost: Sollte man Schüchternheit als Charaktereigenschaft akzeptieren? Oder gegensteuern? Robert Hagen: Ein schüchternes Kind wird nicht zum Prahlhans werden, aber es findet meist auf seine Weise seinen Platz. Es ist ja auch nichts Unangenehmes, wenn ein Mensch sich Zeit nimmt, bevor er auftaut. Die meisten Schüchternen kommen irgendwann rüber und bringen sich ein. Berliner Morgenpost: Ab welchem Grad von Schüchternheit empfiehlt sich ein Therapeut? Robert Hagen: Wenn Ermutigungen nicht helfen und das Kind sich selbst behindert, wenn Leistungsdruck und Stress entstehen, obwohl auch der Lehrer darauf achtet, dass das Kind Erfolgserlebnisse bekommt, dann sollte man genauer hinschauen. Die Ursachen für Angstblockaden liegen oft nicht in der Schule sondern in anderen Lebensbereichen. Das kann durch eine Trennung der Eltern oder die Geburt eines Geschwisterkindes bedingt sein. Viele Kinder sind mit dem frühen Schulbeginn auch noch nicht schulreif und nicht alle Lehrer haben die Erfahrung, damit umzugehen. Wenn das nicht gelingt, muss man ganzheitlich nach den Ursachen schauen, damit die Schule für das Kind kein „Fehlstart“ wird. Hier müssen Eltern, Therapeuten und Lehrer gut zusammenarbeiten und Fördermöglichkeiten prüfen. Berliner Morgenpost: Was sollten Eltern von schüchternen Kindern oder Jugendlichen keinesfalls tun? Robert Hagen: Eltern sollten keinesfalls die vermeintliche Schüchternheit ihres Kindes als negative Eigenschaft bewerten und behandeln. Die Schüchternheit ist sein persönlicher Stil sich in unsicheren oder angstbesetzten Situationen zu bewegen. Offensiv zu agieren ist nur eine andere Form Verunsicherung zu bewältigen. Aus:Morgenpost.de

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