Die Zukunft unserer Seele: Dass sich der Alltag beschleunigt, überfordert die Psyche einer wachsenden Zahl von Menschen. Unser inneres Gleichgewicht ist auf sinnstiftende Orientierung und Geborgenheit angewiesen von Robert Schurz Als vor 16 Jahren in Tutzing eine Tagung über die Zukunft der Psyche stattfand, konstatierte die Mehrheit der Experten, die sich aus Soziologen, Psychologen, Historikern und Medizinern zusammensetzte, dass Vorhersagen über das künftige Schicksal des menschlichen Seelenlebens kaum zu treffen sind. Eine Minderheit jedoch wagte die Prophezeiung, dass psychische Erkrankungen stark zunehmen würden, in erster Linie Angstneurosen und Depressionen. Diese Prognose hat sich in stärkerem Maße bestätigt, als das damals die Wissenschaftler ahnen konnten. Laut Statistik der Krankenkassen haben psychische Erkrankungen insgesamt die höchsten Zuwachsraten, und bei den betrieblichen Krankmeldungen stehen sie mittlerweile an dritter Stelle. Mithin ist eine Zeit abzusehen, in der psychische Störungen den Status einer Epidemie einnehmen werden. Daraus folgt, dass die menschliche Psyche zunehmend überfordert ist. Dabei verhält sie sich wie andere Organe auch: Wenn etwa die Lunge durch Luftverschmutzung überlastet wird, so reagiert sie mit Ausfällen, Dysfunktionen, Krankheiten. Mit was aber ist unsere Psyche überfordert, und wie folgen daraus psychische Erkrankungen? Diese Überforderungen lassen sich zunächst so aufzählen: Verlust von verbindlichen Normen und Sinngebung, Verlust von Autonomie und Verlust von Geborgenheit. Was nun Sinngebung und Normen betrifft, so hat unsere technologische Zivilisation die Tendenz, alles zu funktionalisieren und zu automatisieren. Um ein triviales Beispiel zu geben: Der automatisierte Bankverkehr definiert als klare Funktion den Überziehungskredit. Allein: Die Bedeutung des Schuldenmachens geht dabei verloren. Selbst wenn etwa ein Gastwirt mir sagt, dass ich bis zu zehn Bier auf Pump trinken kann, so ist diese Form des Schuldenmachens ein Akt, der eher auf den Sinn von Schulden verweist als die Auskunft des Bankautomaten, dass ein Limit überschritten wurde. Mit der zunehmenden Automatisierung nicht nur der Arbeit, sondern auch aller anderen Lebensbereiche tritt das ein, was Theodor W. Adorno einst prophezeite: Die Welt wird zum sinnleeren Funktionszusammenhang. Evident ist auch die zunehmende Abwesenheit von Normen: Mit dem Niedergang der Religionen, aber auch des bürgerlichen Sittenideals kann nur noch das Recht Orientierung schaffen. Gut und Böse werden zu Rechtsgütern, die verhandelbar sind. Ihre Geltung ist nicht absolut, sondern, wie es der Logik des positiven Rechts entspricht, eine Sache des Konsenses. Außerdem spielt der Verlust von Sinn und Normen in Partnerschaft, Ehe und Sexualität hinein. Schließlich sei noch die Arbeitslosigkeit erwähnt: Viele empfinden ein Dasein ohne Arbeit als sinnlose Existenz, jedenfalls wenn man Lebenssinn nur an der Schaffenskraft misst. Nun ist unsere Psyche so gestaltet, dass sie eben auf sinnstiftende Orientierungen angewiesen ist, die nicht verhandelbar sind. Das, was Sigmund Freud einst als Über-Ich bezeichnet hat, nämlich jene Instanz im menschlichen Seelenleben, die Handlungen des Ichs im sozialen Gefüge steuert, kann nur seine Aufgabe erfüllen, wenn es absolute Richtgrößen zur Verfügung hat. Fallen diese weg, so steht die Psyche vor dem Problem ständiger Neuorientierungen, und das heißt auch: ständiger Verunsicherung. „Denn wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, heißt es bei Hölderlin, und das gilt auch im Bereich der Sinnentleerung unserer Gesellschaft. Das Rettende ist in diesem Falle die Freizeitindustrie. Der Spaß wird zur obersten Norm. Ein bisschen Spaß zu haben im Leben ist dann Ziel und Orientierung, wobei aber dieser Spaß nicht als freie Gestaltung des eigenen Lebens daherkommt, sondern durch elektronische Massenmedien und durch die Freizeitindustrie vorgegeben ist. Der Spaß wird zum festen und starren Ritual, und Rituale haben zweifellos eine Entlastungsfunktion für die Psyche. Am Ende steht der „homo ludens“, das spielende Wesen, das sich auf dem Niveau eines unbesorgten Kindes befindet. Allerdings funktioniert diese Entlastungsfunktion für die Psyche nur, solange ein gewisser Reichtum in der Gesellschaft garantiert und massive Lebensnot ferngehalten werden kann. Die zweite Gefährdung der Psyche in unserer Zeit liegt im Verlust der Autonomie. Soziologen haben unsere westliche Gesellschaft eine „Massengesellschaft“ genannt, was auch die zunehmende Vergesellschaftung aller Lebensbereiche impliziert. Autonomie bedeutet Selbstkontrolle, Selbstherrschaft, Selbstermächtigung. Unsere Zivilisation hat die Tendenz zur Fremdkontrolle, Fremdherrschaft und Fremdermächtigung. Das beginnt beim „gläsernen Menschen“, dessen Eigenarten und Besonderheiten in irgendwelchen Datenbanken gespeichert sind. Das geht weiter über den Zwang, sich im Internet als öffentliche Person darzustellen (der hauptsächlich die jüngeren Generationen betrifft), über die Reglementierung und Normierung aller Lebensbereiche bis hin zum goldenen Käfig der modernen Medizin. Was Letztere betrifft, so ist ja eine Zeit abzusehen, in welcher Organe oder deren Prothesen extern gesteuert werden. All diese Prozesse bewirken, dass das Individuum sich nicht mehr als etwas Besonderes erfahren kann, sondern nur als Teil einer Masse. Anzeige Unsere Gesellschaft kann auch bei der Gefährdung durch Autonomieverlust eine entlastende Kompensation in Form allumfassender Versorgungsleistungen anbieten. Um das zu verdeutlichen, muss man sich nur den Kultfilm „Matrix“ vergegenwärtigen. Dieser zeigt eine Situation, in der die einzelnen Menschen nur Teil einer amorphen Masse sind und keine wirkliche Individualität mehr haben. Sie sind in einer Symbiose mit einer Maschine, die sie vollständig versorgt, nicht nur mit Nahrung, sondern auch mit Spiel und Spaß und Spannung. In „Matrix“ wird der Mensch zurückgeworfen auf den Status der Mutter-Kind-Symbiose, die ja auch nur funktioniert, wenn eine vollständige Versorgung und damit eine Art Geborgenheit gewährleistet ist. Wenn allerdings eine Gesellschaft diese Versorgungsleistungen nicht mehr garantieren kann, wird es zu einer Art pervertierter Rückkehr von Autonomiebemühungen kommen, die im Kern eine Zunahme von Kriminalität bedeutet. Anders ausgedrückt: Psychopathische Erkrankungen werden zunehmen, wenn einerseits eine universale Versorgung durch die Gesellschaft nicht mehr gewährleistet wird, andererseits das Individuum seiner autonomen Entfaltungsmöglichkeiten beraubt wird. Die dritte Gefährdung der menschlichen Psyche liegt im Verlust der Geborgenheit, der wesentlich durch die Beschleunigung aller Lebensvorgänge bewirkt wird. Geborgenheit entsteht durch Bekanntheit, Gewöhnung, Vertrauen und beständige Interaktion. Ein Kleinkind, dessen Bezugspersonen ständig wechseln, kann auch kein Grundgefühl von Geborgenheit entwickeln. Nun ist unsere Zivilisation geprägt durch einen beständigen Wechsel der Lebensumstände, was verharmlosend als Flexibilität und Mobilität ausgegeben wird. Der durchschnittliche Verbleib an einer Arbeitsstelle verkürzt sich ständig; gleichermaßen wird auch die durchschnittliche Dauer von Ehen oder Partnerschaften immer kürzer. Diese Beschleunigung betrifft selbst den durchschnittlichen Verbleib an einem Wohnort, genauso wie die Dauer von Reisen oder die Dauer von Gebrauchstechnologien. Das liegt sinnfälligerweise an der marktwirtschaftlichen Organisation unseres Gemeinwesens: Kapitalismus lebt nun einmal von der zunehmenden Beschleunigung von Produktion und Reproduktion. Wachstum und Beschleunigung sind in diesem Sinne synonym. Auf den Verlust der Geborgenheit reagiert die Psyche mit Angst, im Extremfall mit Todesangst. Oder es tritt eine Form der Erstarrung ein. Beides lässt sich indessen bei aus dem Nest gefallenen Vögeln beobachten – ein Sinnbild des Verlustes von Geborgenheit. Und genau das ist seit 1993, also seitdem dieser Zusammenhang postuliert und die entsprechenden Prognosen gewagt wurden, eingetroffen: Angstneurosen, oft gemischt mit Depression, haben in unserer Gesellschaft zugenommen. Und für diese Bedrohung hält unsere Gesellschaft nur eine Form der Kompensation bereit: Psychopharmaka. Der Autor (Jg. 1957) arbeitet als Psychotherapeut in Frankfurt am Main und schreibt regelmäßig für verschiedene Hörfunksender. Schurz schrieb an dieser Stelle bereits über die Zukunft unseres Körpers (2. August) und unseres Denkens (4. August). Aus:Welt.de
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