Das Turnier der Hoffnung

Über den Fußball zurück ins Leben: An der Copacabana in Brasilien, wo sich Rios Reiche und Schönen treffen, findet die WM der Obdachlosen statt. Für die neben die Spur geratenen Teilnehmer ist es ein Turnier der Hoffnung.RIO DE JANEIRO – Die Copacabana ist ein Paradies der Reichen und Schönen. Verwöhnte Millionärssöhne führen ihre braungebrannten Körper vor, zutzeln an frisch aufgeschlagenen Kokosnüssen. Die Frauen tragen einen Hauch von Nichts, der sich Bikini nennt. Derzeit aber spielen am weltberühmten und stets überfüllten Sandstrand von Rio de Janeiro die Armen und Vergessenen die Hauptrolle. Die 8. Fußball-WM der Obdachlosen ist ein Turnier der Hoffnung. Willi Lemke hat seine blaue Schirmmütze ins Gesicht gezogen. Allerdings nicht, weil er, wie früher als Manager von Werder Bremen, in geheimer Mission ein Supertalent beobachtet. Sondern nur, um sich vor der brasilianischen Sonne zu schützen. Lemke ist inzwischen ein Sonderberater des UN-Generalsekretärs für Sport im Dienste von Frieden und Entwicklung. Selbstwertgefühl und Kraft Das Schicksal der Spieler geht Lemke zu Herzen. „Hier spielen Menschen, die mit Problemen wie dem Zerfall ihrer Familien oder Drogen zu kämpfen hatten. Sie kommen, erleben diese unbeschreibliche Erfahrung, sie spüren das Privileg, das Trikot ihres Landes überzustreifen. Das gibt Selbstwertgefühl und Kraft, um das Leben wieder in den Griff zu bekommen“, sagt er. Natürlich zählt auch der Sport, doch vorrangig ist er in diesem winzigen Ausschnitt des Milliardengeschäfts Fußball nicht. Wo der „Straßenfußball“ keine leere Worthülse ist, sind Zahlen wie diese allemal wichtiger als das 1:0: Nach der WM 2007 in Kopenhagen schafften 29 Prozent der Teilnehmer den Sprung von der Straße, sie kehrten ins Arbeitsleben zurück. Bei einer Studie gaben mehr als 70 Prozent der Spieler an, ihr Leben habe sich nach dem Turnier positiv verändert. Lemke, der ein Managerleben lang viel dem sportlichen Erfolg unterordnen musste, ist es faszinierend, die andere Seite zu erleben. „Die Effekte dieser Veranstaltung sind durchweg bedeutsam, weil sich für einen Großteil der Spieler das Leben zum Besseren wendet“, bekräftigt er. Darauf hoffen auch sieben Kicker aus Deutschland, die sich bei der deutschen Meisterschaft im August auf dem Hamburger Spielbudenplatz, an der Südseite der Reeperbahn gelegen, hervorgetan hatten. Sportlich isoliert Trainer Stefan Huhn berichtet, dass ein Leben ohne Dach über dem Kopf selbstverständlich auch sportlich isoliert. „Wer vom Rand der Gesellschaft kommt, kann nicht mit Leuten spielen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, Familien haben und erfolgreich sind. Allein vom Selbstwertgefühl her“, sagt Huhn. Der Diplomsportwissenschaftler kennt als Mitarbeiter des Hamburger Sozialprojekts „KoALA“ die Probleme der Wohnungslosen, Suchtkranken und Straffälligen, er weiß, dass die Spieler „robustere Umgangsformen und andere Reizschwellen“ haben. Dennoch: In Rio wird Fair Play großgeschrieben. „Ich habe Szenen beobachtet, die in Profispielen undenkbar wären“, sagt Lemke. Die deutschen Spieler sind in der Vorrunde gescheitert. Die anderen spielen, kämpfen weiter, für den Sieg, für den Traum, für einen Sprung, den zuletzt Bebe gemacht hat: Einst kickte er bei der Obdachlosen-WM, heute hat er einen Vertrag als Profi bei Manchester United. Zunächst aber bleiben die Ziele gering. Zum Start der zweiten Gruppenphase wurden die Trikots erstmals gewaschen, das ist was. Auch sonst ist vom Luxus, den die Fußballprofis bei einer WM genießen, nichts zu spüren. Als WM-Quartier dient eine einfache Herberge. Aber das ist auch egal. „Organisiert Fußball zu spielen, hat dem Wort Freundschaft für mich eine neue Bedeutung gegeben“, berichtet der deutsche Spieler Mario Ziegler. Ab Montag übernehmen dann an der Copacabana wieder die Reichen und Schönen das Kommando. 500 Meter entfernt beginnen die Armenviertel. (sid) Aus:ksta.de

Share

Hinterlass eine Antwort