Ein Mönch kennt keinen Schmerz

Im pfälzischen Otterberg steht ein Haus des buddhistischen Shaolin-Ordens. Wer glaubt, hier gehe es sanft zu, wird eines Härteren belehrt. Meister und Besucher üben sich in Kampfkunst.
Sie stehen einfach nur da: Mabu, Reiterstand, sehr tief in den Knien, Blick und Handflächen nach vorn. Etwas erschwert wird die ohnehin anspruchsvolle Übung dadurch, dass sie bereits zehn Kilometer Waldlauf hinter sich haben, nicht enden wollende Liegestützserien auf den Fäusten und allerlei Dehnübungen, die der Überwindung des Körpers dienen. Luigi, der schwer pumpt, steht nicht tief genug. Der Lehrer hilft etwas nach und drückt ihn herunter. Nach fünf weiteren, sich unendlich zäh ziehenden Minuten bricht Luigi zusammen und fliegt mit ersticktem Schmerzensschrei kopfüber in den Steingarten. „Alles okay?“, ruft der Lehrer. „Ja, alles okay!“, meldet sich Luigi irgendwo aus dem Gebüsch. Noch drei Stunden bis zum Frühstück.Otterberg in der Pfalz ist ein Ort mit wenig Versuchungen. 5500 Einwohner, eine sanierte Stadtmauer, ein Brunnen mit Findling, eine Abteikirche, eine Handvoll Schreinereien, eine Schmiede. Vor einigen Monaten zog der Shaolin-Tempel von Kaiserslautern ins weniger beengte Otterberg um.
Vielleicht denkt man bei einem Tempel der chinesischen Kampfkunst nicht unbedingt an ein zweistöckiges, cremefarbenes Wohnhaus, in dem früher amerikanische Offiziere lebten. Vielleicht stellt man es sich freistehend vor. Ohne Reihenhäuser daneben. Mit Pagoden. Jedenfalls chinesischer. Aber wer eine Weile hinter dieser unscheinbaren Haustür verbringt, hat sich ohnehin von einem Großteil seiner Erwartungen gelöst.
Die Neuen, das sind Luigi, Marcel, Markus und Nadim: Besucher, die eine Woche „Kloster auf Zeit“ für 350 Euro gebucht haben, Shaolin-Touristen, wenn man so will. Markus, der sonst fechtet und vor allem „wegen der Härte“ gekommen ist. Nadim, der in Kaiserslautern aufs Gymnasium geht, bereits seit einem Jahr Kung-Fu macht und ungern früh aufsteht. Marcel, der sich für ein Noviziat interessiert und am Vortag stilgerecht den Schädel rasieren ließ. Alle sind sie 16, bis auf Luigi, den 42-jährigen Sprachkursleiter aus Zürich, der außer ein wenig Tai-Chi keine Erfahrungen mit Kampfsport hat. Es gehe ihm um eine Woche ohne Rauchen, um innere Ruhe und Morgenstimmungen. Ein paar Tage später wird er das weniger romantisch sehen.

Am Jägerzaun zur Rechten steht Inge Schweighöfer, die sehr angetan ist von ihren neuen Nachbarn, weil sie ihrer Ansicht nach so eine seltene Klarheit im Blick haben: „Es geht etwas Besonderes von ihnen aus.“ Über die sorgsam gestutzte Hecke beobachtet sie durch ihre weiße Hornbrille, wie zwei Kampfmönche in Stulpen mit Neun-Ringe-Breitschwertern trainieren. Schweighöfer, die eine Schwäche für Kung-Fu-Filme hat, erkundigt sich, was die Ringe an der Klinge der Schwerter zu bedeuten haben. „Wenn man reinsticht in den Gegner, bleiben die Organe dran hängen“, sagt der Novize in sachlichem Ton. „Das ist doch ’ne gute Erklärung“, entgegnet Inge Schweighöfer ebenso ungerührt.

Acht Stunden Kung-Fu
Im buddhistisch geprägten Shaolin-Kloster Otterberg hat niemand Mordgelüste. Wenn hier mit ungeschärften Trainingswaffen gekämpft wird, fühlt man sich der fast mythischen Tradition des Shaolin-Kung-Fu verbunden, die bis ins Jahr 495 nach Christus zurückgeht, als auf Befehl des chinesischen Kaisers am Fuß der Song-Shan-Berge das erste Shaolin-Kloster (Shaolin bedeutet „junger Wald“) errichtet wurde. Der indische Mönch Bodhidharma hat dort den Chan-Buddhismus begründet und mit Kampfkünsten zur Selbstverteidigung verbunden. Spätere Kaiser schickten die Mönche wegen ihrer Fähigkeiten auch gern in den Krieg. Heutige Shaolin betreiben Kampfkunst ausschließlich als Form der Meditation. Doch wehe dem, der sie in den Kampf treibt. Täglich acht Trainingsstunden Kung-Fu („harte Arbeit“), in Europa spätestens seit Bruce Lee bekannt, sichern ihnen einen gewissen Vorteil. „Vor die Wahl gestellt, ob ich mich im Ernstfall für eine Schnellfeuerwaffe oder meine Mönche entscheiden müsste“, sagt Abt Shi Heng Zong, würde die Wahl immer auf die Mönche fallen.

In seinem Büro befinden sich allerlei rituelle Klangschalen, goldglitzernde Drachen als chinesisches Symbol für Glück, Tiger, die für Kraft und Stärke stehen, und 53 Buddha-Figuren. An der Wand ein Zettel: „Eine Armee von Schafen, geführt von einem Löwen, ist mächtiger als eine Armee von Löwen, geführt von einem Schaf.“ Der raumgreifende Deutschamerikaner, der mit lustig funkelnden Augen hinter einer schmalen Metallbrille hervorschaut, sagt mit ruhigen, gesetzten Worten: „Ein Kämpfer, der interpretiert, wird fehlinterpretieren, er muss reagieren auf das, was ist. Nicht auf das, was er vermutet. Sonst wird er unterliegen.“

Zum Beispiel Shi Heng Zuan. Im Notfall könnte der 21-Jährige im Bruchteil einer Sekunde einen Menschen mit bloßen Händen töten. Sein Blick ist nach innen gekehrt, sein Gang aufrecht, sein Gesicht aufgeräumt wie das Wattenmeer am Morgen. Vor einigen Jahren, als er noch zur Schule ging, aber schon Meisterschüler war, hat ihn jemand grundlos am Kragen gepackt und gegen die Wand geworfen. Er erinnert sich noch immer genau daran, was damals in ihm vorging: Er sei äußerlich vollkommen ruhig geblieben, erzählt er. Wenn ihn jemand beleidigt, rege er sich grundsätzlich nicht auf, er habe keine Aggression gegenüber einem Aggressor. Aber auch keine Angst. Weder vor dem Tod noch vor den Aufgaben des Lebens. Sein Ego verstellt ihm nicht den Blick auf die Situation, die er mit großer Klarheit erfasst. Je näher eine Szene auf einen Kampf zuläuft, desto rationaler denkt er. Jetzt sind es nur die Formen der verschiedenen Kung-Fu-Stile, die in seinem Kopf ablaufen wie ein Film. Was er mit dem anderen anstellt, sollte der zuschlagen. Welchen der weit über 100 Nervenpunkte er attackieren wird – und wie intensiv. Er fühlt sich mächtig genug, einen überlegenen Kampf zu führen, der nicht länger dauern würde als ein Lidschlag. Wollte er sich beweisen, könnte er es eindrucksvoll tun. Aber er muss sich nicht beweisen. Er tut einfach nichts.

Dennoch bewirkt er etwas. Der andere erkennt die Nutzlosigkeit seiner Aggression. „Das hat ihn irritiert.“ Der andere lässt von ihm ab. Im Kino sind dies die Szenen, in denen der Zuschauer sich den Kampf herbeisehnt, weil er weiß, dass der Gute gewinnen wird. Im realen Leben tun die Mönche alles, um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Auch sein Cousin, Shaolin-Meister Shi Heng Yi, hat es versucht. Als er im Bus von zwei Jugendlichen mit „Schlitzauge, geh doch nach Hause“ begrüßt und von ihnen herumgeschubst wurde, sagte er: „Hört doch bitte auf, das kann wehtun.“ Sie dachten, er meinte sich. Als sie zuschlugen, wussten sie jedoch, dass sie gemeint waren. Als die beiden ins Krankenhaus gebracht wurden, konnte der ganze Bus bezeugen, dass es Notwehr gewesen war.

Das Leben im Kloster folgt bestimmten Regeln. Es gibt Verpflichtungen: Waschen, Putzen, Gartenarbeit. Keinen weltlichen Besitz, Zölibat, Gehorsam. Und Vorteile: Keine modischen Verwirrungen morgens vor dem Spiegel, denn alle Roben sind gleich. Keine Steuererklärung, keine Miete, keine Geldsorgen. Dafür Tage mit Struktur und Sinn. Achtsamkeit, Reduktion auf das Wesentliche. Shi Heng Zuan, seit elf Jahren im Kloster, sagt, er sei ein zufriedener Mensch. „In dem Sinne, dass ich vielleicht ein wenig freier bin als andere in meinem Alter. Dass ich Dinge vielleicht anders betrachte und etwas weiter sehen kann.“

Der Laienmönch, der in seinem weltlichen Leben Wirtschaftsingenieurwesen studiert, hat bemerkt, dass sich seine Kommilitonen oft zu sehr mit der Vergangenheit aufhalten. Wenn sie eine schlechte Klausur schreiben, hängt ihnen das lange nach. Ihre Zufriedenheit bemesse sich ausschließlich nach der Note. Er selbst hat ein System der kleinen Ziele, ist zufrieden, wenn er sein Lernpensum bewältigt hat – unabhängig von äußerer Bewertung.

Natürlich könne er sich, meditationsgeschult, besser konzentrieren als andere und länger arbeiten. Wenn die Vorlesungen morgens um acht Uhr beginnen, hat er schon drei Stunden trainiert. Wenn sie aufhören, um 17.15 Uhr, übt er weitere vier Stunden Kung-Fu. Auch würde er sich nach einem harten Arbeitstag niemals aufs Sofa setzen und die Augen schließen. Weil ihm die innere Arbeit an sich selbst ungleich größeren Ertrag verspricht. Ist er erschöpft, macht er ein wenig Qigong – eine langsame Bewegungsabfolge, die den Energiefluss im Körper anregen soll. Oder er meditiert, um danach wieder völlig wach und präsent zu sein.

Shi Heng Zuan lebt mit Shi Xiao Feng, kahl rasiert und ein Jahr jünger als er, in einem spärlich eingerichteten Zimmer, auf besonderen Wunsch der beiden nach größtmöglicher Abhärtung auch im Winter nicht beheizt. Shi Xiao Feng, der früher auf den Namen Julian hörte, hat eigentlich Graveur gelernt und ist der einzige Novize, der in den letzten drei Jahren angenommen wurde. Inzwischen kann er sich so fokussieren, dass er mit einer gewöhnlichen Nähnadel, die er durch den Wurf aus einer fließenden Körperbewegung auf 160 Stundenkilometer beschleunigt, mit gebündelter Kraft eine Glasscheibe auf einen Meter Entfernung durchschlagen kann.

An diesem Morgen ist sein Fußgelenk geschwollen, eine Prellung am Außenrist. Er sagt, er habe starke Schmerzen. Und lacht dabei. Der Schmerz ist nichts, was ihn beherrschen könnte. Er ist es, der den Schmerz beherrscht. Beim Waldlauf ist er dennoch doppelt so schnell wie der Schnellste der Verfolgergruppe. Jetzt stehen die Schützlinge in Zweierreihen, die Hände vor dem Oberkörper gefaltet. Sie verneigen sich in Richtung des Abtes, dann zu ihrem Kampfmeister und rufen sich laut den Segenswunsch zu: „Omitofo“, frei übersetzt: „Buddha des unermesslichen Glanzes leuchte dir.“ Dann folgen Bewegungsabläufe, Schlag- und Trittfolgen. Spagat. „Durchhalten, niemals aufgeben, immer weiter“, feuert sie Shi Heng Zuan an. „Ich versprech’ euch, es wird nichts reißen!“ Je zwei Kämpfer treten sich gegenseitig auf die Außenseite der Oberschenkel, rechts, links, im Wechsel immer wieder, eine halbe Stunde lang. Der Schweizer lächelt, Marcel schon nicht mehr. Oben vom Podest spricht der Abt: „Schmerzen sind nur eine Illusion. Dummerweise eine schmerzhafte.“

Eine halbe Stunde danach bricht Marcel das Training ab. Dem „Abhärtungstraining“ fühlt er sich nicht länger gewachsen. Shi Xiao Fengs Tritte in den Bauch sind zu viel für ihn, obwohl der später versichern wird, mit maximal 20 Prozent Energie zugetreten zu haben. Von außen sieht das brutal aus, aber es ist eine gängige Kung-Fu-Übung, es geht um die Anspannung der Muskeln, die Lenkung der Chi-Energie. Könner beherrschen sie so perfekt, dass sie Holz- oder Stahlstangen über Kopf oder Körper zerbrechen können, ohne sich dabei zu verletzen. „Es tut mir leid, ich kann nicht mehr“, sagt Marcel zum Abt. Später wird ihm der Abt eine Brücke bauen und sagen, wenn er will, könne er am Morgen wieder mitmachen. Marcel bleibt liegen.

Kein Alkohol, keine Frauen
Markus meldet sich einen Tag später ab. Nadim trainiert weiter mit stoischer Ruhe. Luigi, den Körper aufgeschürft und mit Blasen übersät, bricht jeden Tag etwa dreimal zusammen und hält trotzdem eine Woche durch – länger, als es hier je ein Bewerber ohne Kampfsporterfahrung geschafft hat. Die Abbruchquote liegt bei über 90 Prozent. „Der ist gut“, sagt Novize Shi Xiao Feng, der sich nur selten über Besucher äußert. Im Allgemeinen hat er kein Mitleid mit jenen, die herkommen, um ihre Grenzen zu erfahren. Er verlange von ihnen nur das, was auch von ihm verlangt worden sei.
Früher sei er unberechenbar und jähzornig gewesen. In jener Zeit, in der er mehr Probleme gemacht als gelöst habe, prügelte er sich so oft, dass er nach der Karma-Lehre noch einige Leben brauchen werde, um all das Negative wieder abzubauen. Erst das Kloster habe ihn zu einem selbstbewussten Menschen gemacht. Er vermisse nicht den Alkohol, den er damals reichlich getrunken hat, und auch keine Frauen. Ja, er habe die „körperliche Nähe“ als etwas Schönes kennengelernt, aber war sie nicht immer verbunden gewesen mit den „riesigen Problemen“ einer jeden Beziehung? „So denke ich heute, dass es schöner ist, wenn man allein ist und keine Probleme hat.“ Seine Familie, die vermisst er schon.
Von Andreas Wengeroth
Aus:merkur.de

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