Karate statt Canasta

ESSLINGEN: Susanna Huggele hat Karate für sich entdeckt – Die 76-Jährige trainiert dreimal die Woche
Susanna Huggele trägt eine schmale schwarze Lederhose, ein rosafarbenes Twinset und dunkle Ballerinas. Ihre zierliche Erscheinung lässt kaum an Kampfsport denken. Doch die 76-Jährige hat Karate für sich entdeckt. Seit zweieinhalb Jahren trainiert sie bei der TSG Esslingen. Im Frühjahr will sie die Prüfung für den blauen Gürtel ablegen. Susanna Huggele spricht über Karate wie manche Gleichaltrige über Backrezepte, Strickmuster und Canasta- kompetent und begeistert. Dem Laien erklärt sie die Katas, die Übungsformen, die aus einer Reihe von ineinander übergehenden Bewegungen bestehen. Dann schlüpft sie schnell aus ihren Ballerinas und nimmt die Grundposition ein. Der rechte Unterarm und die Hand schnellen nach oben, eine kleine geballte linke Faust schießt nach vorne in Richtung eines imaginären Angreifers. „Hier muss man treffen“, sagt sie und stupst mit der Faust auf einen sehr empfindlichen Punkt im Oberbauch. Da spielt es wohl kaum eine Rolle, dass Susanna Huggele nur 1,50 Meter groß und 43 Kilo schwer ist. Das Wort Kampfsport mag sie jedoch nicht: „Wir trainieren Verteidigungsübungen“, betont sie. Ihr Lehrbuch des Shoto Kan-Karate liegt immer griffbereit in der Schublade im Wohnzimmer-Buffet, die DVD mit den Übungen ein Zimmer weiter im Player. Dreimal die Woche fährt sie von ihrer Wohnung in der Nähe der Burg zum Zollberg. „Das Training versäume ich nie.“
„Sich der Sache ganz unterwerfen“

Vor zweieinhalb Jahren besuchte Susanna Huggele erstmals einen Karate-Schnupperkurs der TSG Esslingen auf dem Zollberg. „Aus Versehen“ sei sie da hineingeraten, sagt sie heute. „Ich kam von einem Wanderurlaub, fühlte mich fit und wollte diesen Zustand gerne erhalten.“ Ihr Blick fiel auf eine Annonce, die für den Kurs warb. Das mache ich, habe sie spontan beschlossen und lacht bei der Erinnerung an ihre ungeeignete Gymnastikbekleidung bei ihrem ersten Besuch. Es hat sie wohl gleich gepackt, denn Susanna Huggele besuchte den Kurs bis zum Ende und buchte gleich den nächsten. Heute hängen vier Gi – so heißen die Anzüge auf japanisch – in ihrem Schrank. Susanne Huggele hat auch ihre Gürtelprüfungen abgelegt. Um ihre schmale Taille ist ein grüner Gürtel geschlungen, der nächste wird blau sein. Im April ist Prüfung. „Ich mache das aber nicht wegen der Gürtel“, stellt sie fest. Sie fasziniert das Klare und Strenge an Karate, die Rituale. „Man muss sich dieser Sache ganz unterwerfen, die Bewegungen sind ganz exakt, der Geist ganz konzentriert“, sagt Huggele. „Haltung, Ernst und Würde sind ganz wichtig.“ Und genau hinhören müsse man: „Die meisten Anweisungen des Lehrers sind auf japanisch.“ Auch wenn ihr die Gürtel als solche nichts bedeuten, hängt sie sich doch rein, um den Anforderungen in den Prüfungen zu genügen. Gerade für den letzten, den grünen, hat sie viel trainiert und ist die Katas immer wieder durchgegangen. „Da kann man schon stolz sein.“
Kürzlich im Tiefschnee

Sportlich war Susanna Huggele schon immer. In jungen Jahren hat sie Tennis gespielt, mit Vorliebe Mixed und Doppel. Sie fährt immer noch Ski und liebt dabei die ausgefallenen Touren. Erst kürzlich ist sie im Tiefschnee an der Zugspitze gefahren. Ihr Berufsleben hatte jedoch ausschließlich mit Kunst zu tun. Sie arbeitete mit ihrem Mann in der familieneigenen Galerie.

Im Kurs ist Susanna Huggele mit 76 Jahren die älteste Teilnehmerin. Und sie ist Anfängerin. Ein Mann, Mitte 60, ist der Nächstältere. Im Gegensatz zu Huggele hat er aber bereits in jüngeren Jahren Karate praktiziert. „Es mag noch etwas exotisch sein, dass Senioren mit Karate beginnen“, sagt Oliver Weiß, der den Kurs leitet. „Das wird sich aber bald ändern.“ Weiß, Inhaber des dritten Dan, eines schwarzen Gürtels also, glaubt an Karate als perfekten Sport für ältere Menschen. „Vitalität und Koordinationsvermögen werden durch die kontrollierten Bewegungen gefördert und damit wird die Mobilität gestärkt“, sagt Weiß, der ausgebildeter Trainer des Deutschen Olympischen Sportbundes ist. Derzeit macht er eine Zusatzausbildung mit der Spezialisierung auf ältere Menschen – die Jukoren, wie ältere erfahrene Menschen in Anlehnung an das Japanische genannt werden. Zum Frühjahr will Weiß in der TSG einen Kurs speziell für Ältere anbieten.

Welches Fazit zieht die 76-jährige Karateschülerin nach zweieinhalb Jahren Training? „Ich schlafe seither viel besser“, sagt Huggele. Und die Haltung, die äußere wie die innere, habe sich verbessert. „Man fühlt sich sicherer, wenn man allein im Dunkeln geht“, sagt Huggele. „Ich wüsste mich zu wehren.“ So perlen dann

auch ironische Kommentare im Bekanntenkreis zu ihrem Sport an ihr ab. „Wer das belächelt, der weiß eben nichts“, sagt sie selbstbewusst, zuckt mit den Schultern, tritt blitzschnell mit dem linken Bein in Richtung eben dieser empfindlichen Stelle am Bauch, steht wieder still und kerzengerade und sagt mit einer leisen Verbeugung: „Yame“ – Ende auf japanisch.
Aus:Esslinger-zeitung.de

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