Wer auf Rituale verzichtet, riskiert Panikattacken

Rituale sind meist klein und scheinbar unbedeutend. Dennoch sollten Menschen nicht auf sie verzichten. Wer es dennoch tut, riskiert seine Gesundheit. Der Kaffee am Morgen, der tägliche Spaziergang am Mittag und die Lektüre kurz vor dem Einschlafen haben eines gemeinsam: Sie sind Rituale. Zwar klein, aber nur scheinbar unbedeutend. Wie wichtig Rituale im Alltag sind, merkt man erst, wenn sie wegfallen. So manch einem hat es schon die Laune für den ganzen Tag vermiest, wenn die Zeitung morgens nicht geliefert wurde. Und es fehlt ihm etwas, wenn er abends im Bett kein Buch hat. „Wird der Ablauf von Ritualen gestört, reagieren Menschen unsicher oder unzufrieden“, sagt der Psychologe Michael Schellberg aus Hamburg. Denn Rituale sorgen für ein sicheres Gefühl. Ihre Kennzeichen: Sie laufen immer nach festen Regeln ab. Der Mensch steuert nicht selbst, sondern wird gesteuert. Oft sind es Momente der Einkehr, in denen der Mensch seine Gedanken schweifen lässt. Es gibt große gesellschaftliche Rituale, zum Beispiel bei Lebensübergängen wie der Taufe eines Kindes, einer Hochzeit oder einer Beerdigung. Jede Kultur hat eigene Rituale Jede Kultur, gesellschaftliche Schicht, Familie und jeder Freundeskreis hat eigene Rituale. Sie geben nicht nur Sicherheit, sondern auch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Und letztlich hat jeder Mensch seine alltäglichen Wiederholungen, die den Tag strukturieren. Auch viele dieser kleinen Rituale signalisieren Übergänge: Die Tasse Kaffee bevor die Arbeit beginnt. Das Lesen bevor der Tag zu Ende geht. „Ohne Rituale geht es nicht. Sie sind ein Skript, das jeder Mensch hat“, erläutert Schellberg. Doch warum ist es wichtig, dass bestimmte Handlungen stets gleich ablaufen? „Das menschliche Gehirn ist immer auf der Suche nach einer Struktur“, erklärt Peter Groß, Psychotherapeut aus Köln. Fehlt diese Struktur oder gerät sie ins Wanken, führt das zur Unsicherheit. Die Wichtigkeit von Ritualen bemerkt auch der, der sich nicht an sie hält. Denn er fällt bei den anderen sehr schnell in Ungnade. Sie reagieren erstaunt oder gar gekränkt, wenn zum Beispiel jemand in bunter Kleidung zu einer Beerdigung geht oder bei der Begrüßung entgegen den üblichen Regeln nicht die Hand gibt. Höflichkeit hat mit Ritualen zu tun Denn auch Höflichkeit hat viel mit Ritualen zu tun. „Ritual heißt immer ‚Wenn-Dann‘. Wenn etwas Bestimmtes passiert, dann muss in einer festgelegten Weise darauf reagiert werden“, sagt Schellberg. Reagiert der andere nicht so wie gedacht, kann das natürlich daran liegen, dass er das Ritual nicht kennt. Doch die meisten Menschen gehen automatisch davon aus, dass der andere mit der Nichtbeachtung des Rituals seine Missachtung ausdrücken möchte – Missverständnisse sind so programmiert. Prinzipiell sind Rituale eine gute Sache. Alles läuft auf Autopilot. Der Mensch kann seine Gedanken schweifen lassen und sich entspannen. So hat zum Beispiel fast jeder Mensch ein Schlafritual. Er lüftet zum Beispiel das Schlafzimmer, während er sich die Zähne putzt. Dann liest er noch ein bisschen in einem Buch, bevor er sich auf die rechte Körperseite zum Einschlafen legt. Helfende Handlungsanweisung In hoch emotionalen Situationen wie bei einer Beerdigung helfen Rituale, weil sie einzelne Schritte vorgeben. Der Trauernde hat damit eine Handlungsanweisung, die ihm hilft, wenn er selbst nicht mehr weiter weiß. „Rituale helfen auch, mit etwas Altem abzuschließen, damit etwas Neues begonnen werden kann“, sagt die Psychologin Elke Overdick aus Hamburg. In unsicheren und hektischen Zeiten werden Rituale wichtiger – die Menschen halten sich an ihnen fest. Dazu kann die morgendliche Konferenz im Büro oder die Tasse Tee am Nachmittag gehören, die eine Konstante im hektischen Alltag ist. Wie wichtig Rituale sind, merken oft auch Menschen beim Beginn ihrer Rente. Sie müssen erst einmal ihr alltägliches Skript neu verfassen, weil viele durch den Job vorgegebene Rituale wegfallen. „Das macht haltlos und verursacht ein inneres Chaos“, sagt Groß. Problematisch werden Rituale allerdings, wenn sie unter allen Umständen eingehalten werden, egal was rundherum passiert. „Rituale können auch zwanghaft werden“, erklärt Overdick. Dann wird der Mensch von ihnen abhängig und befindet sich innerlich in einer Zwangsjacke. Das kann im schlimmsten Fall sogar zu einer Zwangskrankheit mit Panikattacken führen. Bei weitem nicht so schlimm, im Alltag aber hinderlich, ist eine Art magisches Denken – nach dem Motto: „Wenn ich nicht morgens meine Tasse Kaffee trinke, kann ich nicht arbeiten.“ Generell brauchen pedantische Menschen, die viel Wert auf Struktur legen, mehr Rituale als eher chaotisch veranlagte Zeitgenossen. Auch werden bei den meisten Menschen Rituale im Laufe ihres Lebens immer wichtiger. Um zu vermeiden, in Ritualen zu erstarren, rät der Psychologe Peter Groß, auch bei Kleinigkeiten immer wieder etwas anders zu machen. Und sei es nur, sich mal nicht mit dem Waschlappen in der rechten Hand das Gesicht abzuwischen, sondern mit der linken. Von Sabine Maurer Aus:Welt.de

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