Wie alt kann der Mensch werden?

Je reifer wir werden, umso weniger sagt die Anzahl der Jahre etwas über unsere Fähigkeiten und Interessen aus
Wir leben in einer Gesellschaft des langen Lebens. Immer mehr ältere Menschen stehen immer weniger jüngeren Menschen gegenüber. Noch nie zuvor haben so viele Menschen eine so lange Lebenszeit gehabt wie heute. Sehen wir darin nicht ein Problem, sondern eine Chance!

Wir alle werden älter: von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Daran können wir nichts ändern. Aber wie wir älter werden, das haben wir zum Teil selbst in der Hand. Es kommt nämlich nicht darauf an, wie alt wir werden, sondern wie wir alt werden. Es gilt, nicht nur dem Leben Jahre zu geben, sondern den Jahren Leben zu geben. Es gilt, bei besserer Gesundheit länger zu leben! Es gilt, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit bis ins hohe Alter zu erhalten.

Freuen wir uns über die zunehmende Langlebigkeit – und versuchen wir alles, damit aus den gewonnenen Jahren erfüllte Jahre werden! Setzen wir uns für ein Pro- Aging ein, für ein Älterwerden bei möglichst großem körperlichen und seelisch-geistigem Wohlbefinden. Wir wollen ja gar nicht „forever young“ bleiben, wie es der Slogan verspricht. Wir Senioren wenden uns gegen die heutzutage übliche „Anti-Aging-Kampagne“, die voraussetzt, dass Altern etwas Schlimmes ist, gegen das man angehen muss, das man fürchten muss. Wir sind nicht gegen das Altern, das wir ohnehin nicht verhindern können, wir sind für ein möglichst gesundes und kompetentes Älterwerden!

Wir leben in einer alternden Welt. Wir haben nicht nur eine enorme Zunahme der über 60-Jährigen (um 1900 waren es gerade fünf Prozent, heute rund 25 Prozent, bald werden es mehr als ein Drittel, sein – in Spanien Italien und Österreich sogar über 40Prozent, sondern auch eine Zunahme des Anteils der über 70-, 80-, 90- und 100-Jährigen.

90- und 100-Jährige sind bei uns keine Seltenheit mehr. Heute leben bei uns mehr als eine halbe Million Menschen, die 90 Jahre und älter sind, weit über 10 000 sind sogar über 100 Jahre alt. In 15 Jahren steigt die Zahl der über 90-Jährigen auf über eine Million, die der über 100-Jährigen auf über 44 000. Und im Jahr 2050 werden wir (bei einer Reduzierung der Gesamtbevölkerung auf rund 70 Millionen) mehr als zwei Millionen über 90-Jährige und über 114 000 Centenarians haben. Im Jahr 2009 gratulierte der Bundespräsident 5660 Personen zum 100. Geburtstag und 447 zum 105. und höheren.

Die Gruppe der „Hochaltrigen“ ist weltweit die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe. Die übliche Einteilung, von den sogenannten „jungen Alten“ und ab etwa 80 von den „alten Alten“ zu sprechen, ist problematisch. Mancher ist schon mit 60 ein „alter Alter“, andere sind noch mit 90 „junge Alte“. Das „functional age“ ist ausschlaggebend, die Funktionstüchtigkeit körperlicher und geistiger Fähigkeiten. Diese sind keinesfalls an ein chronologisches Alter gebunden, sie werden von biologischen und sozialen Faktoren, die während eines ganzen Lebens einwirken – wie Schulbildung, berufliches Training. Lebensstil und Reaktionen auf Belastungen – mitbestimmt. Ein generelles Defizitmodell des Alterns ist in Frage zu stellen; es wurde auch durch viele Studien widerlegt.

Wir haben eine zunehmende Langlebigkeit und mehr Freizeit, wir werden älter und sind dabei viel gesünder als Generationen vor uns. Senioren von heute sind anders: kompetenter, fitter, selbstbewusster, anspruchsvoller und oft auch wohlhabender. Wir müssen endlich zu realistischen Altersbildern kommen! Freilich, mit der zunehmenden Hochaltrigkeit steigt auch die Gefahr zunehmender Erkrankung, Hilfsbedürftigkeit und vielleicht auch Pflegebedürftigkeit. Doch das Alter hat viele Gesichter. Individuelle Unterschiede treten deutlich hervor. Da ist der hochkompetente, weise, belesene 90-jährige, der seine morgendliche Gymnastik macht, täglich kritisch die Zeitung liest und die Nachrichten verfolgt, der informiert und orientiert ist, der Reisen unternimmt und mit Neugier der Welt begegnet; und da ist andererseits der vielleicht sogar 10 Jahre Jüngere, der von Krankheiten geplagt wird, dessen Denken nur um seine Beschwerden kreist, der sich über nichts mehr freuen kann, den weder Zeitungen noch Nachrichten interessieren, der nur ungern das Haus verlässt, der sich zurückzieht, der Altern erleidet. Studien haben nachgewiesen: Je älter wir werden, umso weniger sagt die Anzahl der Lebensjahre etwas aus über Fähigkeiten, Fertigkeiten, Interessen, über Verhaltens- und Erlebnisweisen. Gleichaltrige zeigen oft größere Unterschiede als Menschen, deren Altersunterschied 20, 30 Jahre beträgt. Altern ist stets das Ergebnis eines lebenslangen Prozesses mit ureigensten Erfahrungen, mit individuellen Formen der Auseinandersetzung mit Problem- und Belastungssituationen. Unsere Aufgeschlossenheit, die Ausbildung, unser Interesse, aber auch die körperliche Aktivität beeinflusst Alterszustand und Alternsprozess.

Gewiss bringt das Älterwerden Einschränkungen, doch es kommt darauf an, nicht nur die Grenzen zu sehen, und daran zu verzweifeln, sondern den Blick auf die verbliebenen Möglichkeiten zu richten und sie zu nutzen. Sehen wir das Glas nicht halb leer, sondern noch halb voll!

Eine positive Einstellung zum eigenen Alter, ein Pro-Aging wird natürlich auch erheblich beeinflusst durch die Gesellschaft, in der wir leben – von Ansehen, und Wertschätzung, die dem alten Menschen entgegengebracht werden. Eine durch Jugendwahn gekennzeichnete Gesellschaft, die das Alter ablehnt, in der ein negativ getöntes Altersbild vorherrscht, macht es dem Einzelnen schwer, zum Älterwerden JA zu sagen.

Ursula Lehr ist Gründungsmitglied der Initiative „Deutschland – Land des Langen Lebens“. Die CDU-Politikerin war von 1988 bis 1991 Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Sie ist eine der bedeutendsten Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet der Erforschung und Gestaltung des Alterns und gründete und leitete viele Jahre das Institut für Gerontologie in Heidelberg sowie das Deutsche Zentrum für Altersforschung. Die 80-Jährige hat im vorigen Jahr den Vorsitze der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) übernommen.
Aus:Tagesspiegel.de

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