Das Mädchen mit dem Apfel

Es ist bitterkalt an diesem dunklen Wintertag im Jahre 1944. Doch es ist ein Tag wie jeder andere in diesem Konzentrationslager der Nazis. Ich gehe hin und her, um meinen abgemagerten Körper warm zu halten. Ich bin nur ein Junge, und ich bin hungrig. Ich bin schon so lange hungrig, dass ich das am liebsten vergessen würde. Genießbare Nahrung scheint wie ein Traum zu sein. Je mehr von uns Tag für Tag verschwinden, desto mehr wird auch die Vergangenheit zum Traum und ich werde immer verzweifelter.

Plötzlich sehe ich eine Bewegung draußen auf dem Feld vor den zwei Stacheldrahtzäunen, die ums Lager gezogen sind. Auf dem Feld arbeiten Familien und ein junges Mädchen steht nahe beim äußeren Zaun. Ich eile zum inneren Zaun, immer die Wachen im Blick behaltend.

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Das Mädchen unterbricht seine Arbeit und sieht mich mit traurigen Augen an – Augen, die zu sagen scheinen, dass sie versteht. Ich frage sie – im Abstand von sechs Metern und zwei Zäunen -, ob sie etwas zu essen hat. Sie greift in ihre Tasche und holt einen roten Apfel heraus. Einen wunderschönen, rot leuchtenden Apfel. Sie schaut nach links und nach rechts und wirft dann mit einem triumphierenden Blick den Apfel über die Zäune. Ich hebe ihn auf, halte ihn zwischen meinen zitternden, vor Kälte starren Fingern und renne weg so schnell ich nur kann. Wenn die Wachen uns sehen, werden wir beide erschossen.

Am nächsten Tag kann nicht nicht anders als noch einmal zur selben Stelle am Zaun zu gehen. Bin ich verrückt, weil ich hoffe, dass sie noch einmal kommt? Natürlich. Doch trotzdem klammere ich mich an diesen winzigen Funken Hoffnung.

Sie kommt. Und wieder bringt sie einen Apfel mit, den sie mit demselben süßen Lächeln über die Zäune schleudert. Diesmal fange ich ihn und zeige ihn ihr. Ihre Augen leuchten. Und zum ersten Mal seit langer Zeit regen sich in meinem Herzen Gefühle.

Sieben Monate lang treffen wir uns auf diese Weise. Manchmal wechseln wir ein paar Worte. Manchmal kommt nur der Apfel herüber. Doch sie, dieser Engel vom Himmel, ernährt nicht nur meinen Bauch. Sie nährt meine Seele. Und irgendwie weis ich, dass ich auch ihre Seele nähre.

Eines Tages höre ich schlimme Neuigkeiten: Wir werden in ein anderes Lager verlegt. Als ich sie am nächsten Tag begrüße, bricht mir das Herz. Ich kann kaum reden. “Bring mir morgen keinen Apfel”, sage ich. “Ich werde in ein anderes Lager gebracht. Wir werden uns nicht wiedersehen.” Ehe ich nicht mehr an mich halten kann, renne ich weg. Ich kann nicht zurückschauen. Täte ich es, dann würde sie sehen, dass mir Tränen über das Gesicht laufen.

Monate vergehen und der Alptraum geht weiter. Nur die Erinnerung an jenes Mädchen hält mich am Leben. Und dann ist eines Tages mit einem Mal der ganze Spuk vorbei. Der Krieg ist aus. Diejenigen von uns, die noch am Leben sind, werden befreit. Ich habe alles verloren was mir lieb und teuer war, auch meine Familie. Aber ich habe noch die Erinnerung an dieses Mädchen, eine Erinnerung, die ich in meinem Herzen mitnehme, als ich nach Amerika auswandere, um ein neues Leben zu beginnen.

Die Jahre vergehen. Wir schreiben das Jahr 1957. Ich lebe in New York City. Ein Freund überredet mich zu einem Rendezvous mit einer Dame, die mit ihm befreundet ist. Und sie ist nett, diese Dame namens Roma. Und sie zählt wie ich zu den Einwanderern. Zumindest haben wir das gemeinsam.

“Wo warst du während des Krieges?”, fragt mich Roma sanft, in dieser behutsamen Art, in der sich Einwanderer solche Fragen stellen.

“Ich war in einem Konzentrationslager in Deutschland”, gebe ich zur Antwort.

Romas Augen scheinen in weite Fernen zu blicken.

“Was ist?”, frage ich.

“Ich denke nur an jemanden aus der Vergangenheit, Herman”, erklärt Roma und spricht plötzlich ganz weich. Weißt du, als ich ein junges Mädchen war, lebte ich in der Nähe eines Konzentrationslagers. Darin war ein Junge, ein Häftling, und ich habe ihn längere Zeit jeden Tag besucht. Ich brachte ihm immer einen Apfel. Ich warf die Äpfel über den Zaun. Er war dann immer so glücklich!”

Roma seufzt tief und fährt fort. “Man kann kaum beschreiben, welche Gefühle wir füreinander hatten – doch schließlich waren wir noch sehr jung und konnten nur selten einige Worte wechseln. Aber ich kann dir sagen: Da war viel Liebe im Spiel. Ich vermute, dass er ums Leben kam, wie so viele andere. Doch den Gedanken daran kann ich nicht ertragen und so versuche ich, ihn so in meiner Erinnerung zu haben, wie er in jenen Monaten war, die uns zusammen gegeben waren.”

Mein Herz schlug so stark, dass ich dachte, es würde zerspringen. Ich sah Roma unmittelbar an und fragte sie: “Und sagte dieser Junge eines Tages zu dir: ‘Bring mir morgen keinen Apfel. Ich werde in ein anderes Lager gebracht’?”

“Aber ja”, antwortete Roma mit einem Zittern in ihrer Stimme.

“Doch Herman, wie konntest du davon erfahren?”

Ich nahm ihre Hände in meine und antwortete: “Weil ich dieser Junge war, Roma.”

Wir konnten einige Minuten lang nur schweigen. Wir konnten die Augen voneinander nicht lassen, als wir die Seele hinter den Augen des anderen entdeckten, den geliebten Menschen, mit dem wir einst in großer Zuneigung zugetan waren und den wir nie zu lieben aufgehört hatten.

Schliesslich sagte ich: “Roma, ich wurde einmal von dir getrennt, aber ich möchte nie wieder von dir getrennt werden. Jetzt bin ich frei, und ich möchte für immer mit dir zusammenbleiben. Meine Liebe, möchtest du mich heiraten?”

Ich sehe heute noch, wie ihre Augen leuchteten, als Roma sagte: “Ja, ich will dich heiraten.” Wir umarmten uns – so, wie wir es viele Monate hindurch gerne getan hätten, wäre da nicht der Stacheldraht zwischen uns gewesen. Nun wird nie wieder etwas zwischen uns stehen.

Aus: Einer Email

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