Der Geist ist willig, aber …

Wir wissen mehr über Ernährung denn je, trotzdem essen wir einsam, hektisch und häufig falsch. Das kostet die Volkswirtschaft Jahr für Jahr Milliarden
von Tobias KaiserSie bestehen fast nur aus Fett und Zucker und hinterlassen eine triefende Spur auf dem Pappteller. Frittierte Mars-Riegel sind an Imbissbuden in Schottland ein beliebter Nachtisch. Und ein trauriges Symbol dafür, dass Aufklärung über gesunde Ernährung sogar in das Gegenteil umschlagen kann.
Denn die Schokoriegel, die gefroren, in Ausbackteig getaucht und kurz ins Frittierfett gehalten werden, gab es lange nur in wenigen Buden. Erst als britische Zeitungen begannen, die fetttriefende Zuckerbombe als Kronzeugen für ungesunde Lebensweise zu präsentieren – erst da wurde sie weit über die Grenzen von Großbritannien hinaus zum Kultgericht, vor allem bei Kindern und Jugendlichen.

Zwar geht gesundheitliche Aufklärung nur selten so eindeutig nach hinten los. Trotzdem zweifeln Verfechter einer gesünderen Ernährung zunehmend daran, dass Aufklärung allein genügt, um das Ernährungsverhalten besonders jüngerer Menschen zu verändern. Denn mehr Aufklärung über Ernährung und Gesundheit scheint Verbraucher nicht unbedingt zu besseren Essern zu machen.

Tatsächlich sind die Menschen heute gut über gesunde Ernährung informiert. Was die Wissenschaft über gesundheitsförderndes Essen weiß, lässt sich auf eine knappe Formel bringen: viel Obst, Gemüse und Vollkorn, wenig Fett, pflanzliche Fette statt tierischer und vor allem wenig Süßes. Einen Großteil dieser Empfehlungen kennen schon kleine Kinder. „Das Problem ist nicht die Aufklärung“, sagt Neville Rigby, der Direktor des European Forum on Obesity, einer von der Lebensmittelindustrie unterstützten Kampagne gegen Fettleibigkeit. „Wir wissen bereits alles, was wir wissen müssen.“
Trotzdem ernähren sich die Bundesbürger weiterhin ungesund. In einer Umfrage des Lebensmittelkonzerns Nestlé gaben 85 Prozent der Befragten zu Protokoll, dass sie mit ihrer Ernährungsweise unzufrieden sind und sie gerne ändern würden. Ein Viertel glaubt, sich zu einseitig zu ernähren, zu fett, zu süß und zu unregelmäßig zu essen. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ – mit diesem Zitat aus dem Matthäus-Evangelium ließe sich auch das heutige Essverhalten der Deutschen beschreiben, die sich ungesünder ernähren, als sie es selbst wollen. Offenbar sind es vor allem die moderne Arbeitswelt und der gesellschaftliche Wandel, die den Menschen zu einem Lebensstil verleiten, der viel ungesünder ist, als er sein müsste. In der Nestlé-Umfrage sagen die Befragten, dass vor allem Zeitdruck und ein unregelmäßiger Tagesablauf sie von einem gesünderen Lebensstil abhielten. Dass immer mehr Menschen allein leben und abends lieber ein Fertiggericht in die Mikrowelle stecken, anstatt zu kochen, verschärft das Problem.

Der ungesunde Lebensstil beeinträchtigt aber nicht nur Lebensfreude und Gesundheit des Einzelnen, sondern belastet auch die Allgemeinheit. Gesundheitsökonomen und Mediziner glauben, dass ungesunde Ernährung krank macht und dadurch erhebliche volkswirtschaftliche Schäden verursacht. Dabei geht es nicht um Protein- oder Vitaminmangel; beide tauchen in Industrieländern nur noch bei Randgruppen oder sehr alten Menschen auf. „Wenn wir heute über ungesundes Essen sprechen, geht es vor allem darum, dass Menschen permanent mehr Kalorien zu sich nehmen, als sie verbrennen“, sagt Urs Widmer, Gesundheitsexperte beim Rückversicherer Swiss Re.
Wie hoch die volkswirtschaftlichen Kosten von Übergewicht sind, lässt sich allerdings nur schwer beziffern. Die Bundesregierung verweist beispielsweise darauf, dass rund 30 Prozent der Gesundheitskosten auf ernährungsbedingte Krankheiten entfallen – insgesamt fast 80 Milliarden Euro jährlich.

Ob dieser Betrag nicht vielleicht viel zu niedrig – oder deutlich zu hoch – angesetzt ist: Niemand weiß es. Schließlich lässt sich bei chronischen Krankheiten nur selten eine einzelne Ursache ausmachen. Nur dass die Kosten sehr hoch sind, bezweifelt niemand.

Tatsächlich ist die Datenlage beim Thema Ernährung erstaunlich dünn – und häufig widersprüchlich; es ist noch nicht einmal sicher, ob die Zahl der Übergewichtigen in Deutschland in den vergangenen Jahren gestiegen oder gesunken ist. Auf einige wenige Fakten können sich Wissenschaftler allerdings einigen, und die sind alarmierend: „In der Tendenz hat das Übergewicht seit den 70er-Jahren nicht dramatisch zugenommen. Nur in den Extrembereichen steigen die Zahlen: Wir haben mehr Menschen, die sehr dick sind, und mehr die sehr dünn sind“, sagt Friedrich Schorb, Bremer Soziologe und Autor des Buchs „Dick, doof und arm?“. Gerade die sehr Übergewichtigen leben besonders gefährlich: Sie leiden häufiger an chronischen Krankheiten und sterben früher. Bei einem Body-Mass-Index von 40 – den ein 1,80 Meter großer Mensch bei 128 Kilogramm Gewicht erreicht – verringere sich die Lebenserwartung um zehn Jahre, sagt Swiss-Re-Experte Widmer.
Gerade die steigende Zahl von sehr dicken Menschen belastet das Gesundheitssystem: Wissenschaftler der Medizinischen Hochschule Hannover und des Helmholtz Centers München haben die Gesundheitsausgaben verschiedener Gewichtstypen untersucht. Demnach liegen die Behandlungskosten für leicht Übergewichtige nur unwesentlich über denen von Normalgewichtigen. „Wirklich deutlich steigen die Kosten aber bei schwer Übergewichtigen mit einem Body-Mass-Index von 35“, sagt Untersuchungsleiter Thomas von Lengerke; diesen Wert erreicht man bei 1,80 Meter Größe und 112 Kilogramm.

Weil Aufklärung an diesen Trends offenbar wenig ändern kann, verlangen Experten, dort anzusetzen, wo Menschen außer Haus essen. Bei der Schulspeisung etwa und in der Kantine. Dort müsse es mehr gesunde Mahlzeiten geben. Gefragt sei auch die Lebensmittelindustrie, sagt Neville Rigby: „Die großen Konzerne müssen ehrlicher werden und stärker kenntlich machen, wie gesund einzelne Lebensmittel sind. Dann werden Verbraucher sehen, dass eine große Zahl von Produkten das Übergewichtsproblem verschlimmert.“ Auch wenn Warnhinweise vermutlich kein Allheilmittel sind: Dass ein in siedendes Öl getauchter Schokoriegel kein Gesundheitsfutter ist, wissen auch die größten Fans der schottischen Delikatesse.
Aus:welt.de

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