Eine revisionistische Ansicht der Aikido-Geschichte

Vor einigen Tagen schickte mir einer unserer Leser freundlicherweise eine Seite einer Ausgabe des ‘International Aikido Newsletter’. Ich glaube dieses Blatt wird von der Europäischen Aikido Vereinigung herausgegeben. Sie enthielt die Antworten eines bekannten achten Dans auf Fragen, die Teilnehmer eines von ihm geleiteten niederländischen Sommercamps ihm stellten. Eine dieser Fragen lautete wie folgt: “Warum wird im Aikido nicht der Umgang mit Waffen gelehrt?”, worauf er folgendes antwortete:
Um zu verstehen, warum es keinen Waffenunterricht im Aikido gibt, muss man in der Geschichte zurückschauen. In der Vergangenheit, während die Samurai herrschten, nannte man die Kampfkünste “Kobudo”. Das Schwert war die Waffe der Samurai. Aus der Schwertkunst entwickelte sich das “Jujutsu”. Eine der berühmten Schulen des Jujutsu war das “Daito Ryu”. Erst in der jüngeren Vergangenheit haben sich die “sanfteren” Kampfkünste entwickelt. “Judo” ist ein gutes Beispiel für eine solche. Jigoro Kano hat sich das Judo auf der Suche nach einer Kunst ausgedacht, die so überlegen sein sollte, dass es nicht mehr nötig ist, einen Angreifer zu töten. Nachdem er das Judo entwickelt hatte, konnte er keine anderen Kampfkunstschulen mehr besuchen, um weiter zu lernen. Um neue Entwicklungen zu studieren, sandte er seine Schüler in verschiedene Schulen. Im Rahmen dessen, schickte er (Minoru) Mochizuki-Sensei zu Meister Morihei Ueshiba. Als dieser ihm dann von den Lehren des Meister Ueshiba berichtete, soll Kano diese Kunst das “wahre” Budo betitelt haben.

 

Aikido kann also als die nächste Stufe in der Entwicklung der Kampfkünste gesehen werden, als Weiterführung des Weges des Schwertes, das nicht mehr dazu benutzt werden soll, Leben zu nehmen. Waffen sind also ein Teil eines Schrittes einer Entwicklung, die in der Vergangenheit liegt. Mit Waffen zu üben würde bedeuten, sich auf die Vergangenheit zu konzentrieren. Aikido zu erlernen ist, sich mit den neuen Entwicklungen zu beschäftigen. Die Bücher von Saito-Sensei haben für viel Verwirrung gesorgt. Er war ein Schüler von O-Sensei. In seinen Büchern geht es nicht darum, Aikido mit Waffen zu verbinden, sondern das Wissen zu erhalten, dass im Studium der Waffen eingebettet ist.
Ich habe diese Antwort leicht bearbeitet und unbeholfenes Englisch verbessert, aber ansonsten hält sich die obige Version sinngetreu an den originalen Text, der voraussichtlich von einigen tausend europäischen Aikidoka gelesen wird, zusätzlich zu den Hunderten, welche die Kommentare dieses Shihan persönlich gehört haben. Ich musste den Text ein paarmal lesen, um die subtile Logik in dieser Antwort zu verstehen. Bis hierhin hatte ich die Antwort ungefähr wie folgt verstanden: Das Schwert, die Waffe der Samurai, war während der Feudalzeit ein Tötungsinstrument. Jujutsu, eine sanftere Form der Kampfkünste, so wie “Daito Ryu”, entwickelt aus dem Schwertkampf, ist in moralischem Sinne höher stehend, da dort nicht getötet wird. Das jüngere Judo ist ein weiteres Beispiel für diese “sanfte” Tradition und Jigoro Kano, Entwickler des Judo, soll die Techniken von Morihei Ueshiba bewundert haben. Aikido repräsentiert aus diesem Grund die “nächste Entwicklungsstufe” in der Entwicklung der Kampfkünste und ist der Schwertkunst überlegen, da auch das Aikido auf das Töten verzichtet. Das Erlernen der Schwertkunst ist also ein Schritt rückwärts und hat keinen Platz im Aikido.
Ich glaube, dass meine Umschreibung die Ansicht des Shihan im Wesentlichen wiedergibt. Ich muss jedoch in aller Offenheit zugeben, dass mich diese Kommentare aus einigen Gründen stören. Ich will einmal die in historischer Hinsicht vagen Formulierungen und die mangelnde Definition der Begriff “Schwertkunst” und “Jujutsu” beiseite lassen; man könnte sie mit der Übersetzung begründen und der Tatsache, dass das Zielpublikum sich nicht in der japanischen Geschichte auskennt. Ich weiss nicht, ob dieser Shihan hier nur seine persönliche Sichtweise oder die offizielle Sichtweise seiner Organisation verbreitete. Darauf kommt es eigentlich auch gar nicht an.
In unseren Bemühungen die Rolle des Waffentrainings zu verstehen, sollten wir zunächst die Ansichten des Aikido-Gründers Morihei Ueshiba selbst betrachten. Ist dies unvernünftig? Der Begründer verstand Aikido als ein integriertes Kampfsystem, das auf den Prinzipien des Schwertkampfes beruht.
Das moderne Aikido ist ein Produkt des intensiven Trainings und der Meditation des Begründers, während er sich nach dem Zweiten Weltkrieg nach Iwama zurückgezogen hatte. Ich habe darüber in meiner “Übersicht der Aikido-Geschichte” berichtet, die der interessierte Leser in Takemusu Aikido Band I finden kann.
Der Aikido-Lehrplan beinhaltet hunderte von waffenlosen Techniken (Taijutsu), sowie zahllose Techniken mit Stock und Schwert. Diese Techniken hängen miteinander zusammen und sind untrennbar; sie sind verbunden sowohl in der Theorie, wie auch der Praxis. Das Schwert – die Seele des Samurai – wird im Aikido umgewandelt in ein Leben gebendes Schwert (Katsujiken) und wurde vom Begründer bei seinem täglichen Training und bei Demonstrationen intensiv benutzt. Weiterhin benutzte der Gründer das Schwert als Metapher für ein Instrument der Liebe und des Mitgefühls. Er hielt es für einen Teil der “Großartigkeit” der Kami (Kami no Shikumi). Kurz gesagt, das Schwert ist ein essenzieller Bestandteil und ein grundlegendes Konzept im Aikido des Begründers, das nicht hinfort gedacht werden kann, ohne die Pfeiler seiner grundlegenden Annahmen umzureißen.
Nachdem ich dies gesagt habe, lassen Sie mich bitte etwas klarstellen, das vielleicht missverstanden werden könnte. Ich habe nichts gegen irgend jemanden – Shihan oder anderer Aikido-Lehrer – der sich entscheidet, keine Waffen in ihrem oder seinem Unterricht zu verwenden. Das ist eine persönliche Entscheidung. Aber ich widerspreche heftig jedem, der versucht, das Konzept, welches der Begründer vom Aikido hatte, zu verfälschen, indem behauptet wird, das Schwert habe keinen Platz im Aikido. Das ist einfach falsch und die Wahrheit kann leicht aus dem Studium der Schriften, Filme, Fotos, Reden und einer Vielzahl an Anekdoten gewonnen werden.
Auch die Behauptungen des Shihan über Saito-Sensei verdienen Kommentierung. In seinem Buch stellt Saito-Sensei klar, dass Taijutsu und Aiki Jo und Aiki Ken im wesentlichen Eins sind und auf dem Prinzipien des Schwertes beruhen. Da dies nun das genaue Gegenteil von dem ist, was der Shihan behauptet, ist es kein Wunder, dass “viel Verwirrung” darauf folgte. Was sollen die Besitzer von Saito-Senseis Handbüchern und seine vielen Schüler in der ganzen Welt von solchen öffentlichen Aussprüchen eines hoch-graduierten Shihan halten?
Aikido-Journal ist in der Vergangenheit von verschiedenen Leuten für seinen “erheblich” einseitigen Fokus auf die Geschichte kritisiert worden. Mit anderen Worten, es wurde behauptet es sei keine gute Sache, sich derart auf die Vergangenheit zu konzentrieren; immerhin hätten wir uns weiterentwickelt und eine neue Stufe in der Evolution wäre erreicht. Wenn dies allerdings behaupten soll, dass auch nur einer der heutigen Shihan das Können von Morihei Ueshiba übertroffen hat, dann muss man darüber sprechen. Gegenüber meinen Kollegen habe ich gelegentlich darauf hingewiesen, dass ich die Ursprünge und die frühen Jahre des Aikido interessanter finde, als die heutige Zeit und begründe dies mit den unglaublichen Fähigkeiten und den epischen Biographien der Männer aus den Anfängen des Aikido, wie zum Beispiel Morihei Ueshiba, Sokaku Takeda oder Yoichiro Inoue. Es ist weniger offensichtlich, dass eine Kenntnis der Geschichte auch eine Orientierung bei der Bewertung heutiger Charaktere bieten kann. Man kann zum Beispiel viel über die Aufrichtigkeit und die Absichten Einzelner lernen, indem man verfolgt, wie sie vergangene Ereignisse schildern und sie sich für ihre eigenen Zwecke ausmalen. Fehlinformationen über historische Angelegenheiten können sich ungebremst fortpflanzen und werden dort, wo die Leute schlecht informiert sind, als Fakten anerkannt. Aikido-Journal hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf dem Feld des Aikido dieser Entwicklung durch die Bereitstellung von gewissenhaft erforschtem Material etwas entgegen zu setzen und seinen Lesern ausreichende Informationen zu verschaffen, so dass diese ihre eigenen Schlüsse ziehen können.

von Stanley Pranin

 

 

Übersetzt von Stefan Schröder
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