Kürzlich erhielt ich mein Exemplar des Aikido Journal 106 und während ich es durchblätterte fühlte ich einen gewissen Stolz, dass die Zeitschrift nun durchgängig seit 22 Jahren erscheint und einen festen Platz in der internationalen Aikido-Gemeinschaft errungen hat. Ich muss nicht extra betonen, welche Dankbarkeit ich gegenüber der großen Anzahl an Aikido-Shihan empfinde, die mich über die Jahre unterstützt haben. Ich bewundere auch unsere Leser, von denen sich viele intensiv dem Studium der Kampfkünste widmen und die ihr Wissen in ihr tägliches Leben integrieren.
Gleichzeitig muss ich auch anmerken, dass viele unserer Artikel sich an (Aikido-)Lehrer und andere erfahrene Kampfkünstler richten. Vielleicht setzen wir bei unseren Lesern zu oft ein gewisses Grundwissen über die Geschichte des Aikido und des Daito-Ryu, die Kenntnis der Namen der führenden Lehrer und technische Kenntnisse voraus. Mein Verdacht ist es nun, dass viele unserer Leser, die noch nicht so lange dabei sind, von der schieren Informationsmenge auf diesen Seiten förmlich erschlagen werden. Aus diesem Grunde wollte ich einen Überblick über den eigentlichen Zweck dieser Zeitschrift abliefern: Die Kunst des Aikido. Die Leser, welche dieses Thema für kalten Kaffee halten, bitte ich an dieser Stelle um Nachsicht.Aikido ist eine moderne japanische Kampfkunst, die von Morihei Ueshiba (1883-1969) geschaffen wurde. Sie ist unter den Kampfkünsten darin einzigartig, dass sie großen Wert auf ethische Prinzipien legt, die sich auch in der Anwendung der Techniken widerspiegelt. Obwohl Morihei Ueshiba bis zu 20 Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg gewirkt hat, siedelt man die Entstehungszeit des Aikido in den Jahren nach dem Krieg an.
Die technischen Wurzeln des Aikido liegen zum größten Teil im Daito-Ryu-Aikijujutsu. Diese Jujutsu-Kunst entstammt verschiedenen überlieferten kriegerischen Traditionen innerhalb des Aizu-Clans. Die Lehre des Daito-Ryu wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Sokaku Takeda modernisiert und verbreitet und er soll nahezu dreißigtausend Schüler unterrichtet haben. Morihei Ueshiba war einer seiner führenden Schüler und Takedas Erfolge haben zu einem Wiederaufleben des Interesses am Daito-Ryu geführt.
Ueshiba wurde ebenfalls stark von Onisaburo Deguchi (1871-1948) beeinflusst, welcher der religiösen Omoto-Sekte angehörte. Der Begründer des Aikido hat viele der Omoto-Lehren übernommen und Ueshibas Vision von einem Universum in dynamischer Harmonie ähnelt stark den Grundgedanken dieser Religion.
Aikido hat sich seit den frühen fünfziger Jahren (des 20. Jh.) stetig wachsender Beliebtheit erfreut, sowohl in Japan, wie auch anderswo. Ueshiba war allerdings nicht hauptsächlich für die Verbreitung des Aikido nach dem Zweiten Weltkrieg. Die schnelle Verbreitung dieser Kunst verdanken wir einzelnen seiner Schüler, wie Koichi Tohei, Gozo Shioda, Minoru Mochizuki, Kenji Tomiki und Kisshomaru Ueshiba.
Diese zentralen Persönlichkeiten sind auch für die Entwicklung der heutigen Haupt-Stile des Aikido verantwortlich. Der Stammbaum von praktisch jeder heute existierenden Schule kann auf einen dieser Pioniere zurückgeführt werden. Wir wollen also nun diese fünf Richtungen im Aikido, die sich auf die Lehren dieser Meister begründen, näher betrachten.
Da ist zunächst das Aikikai Hombu-Dojo. Das Hombu Dojo, wie es vielen zehntausenden Aikido-Praktizierenden bekannt ist, ist der direkte Nachfolger des Kobukan Dojo, Ueshibas Schule vor dem Krieg. Es ist die bei weitem größte Aikido-Organisation, mit weltweit tausenden angeschlossenen Schulen. Der Präsident dieser Hauptlinie ist der Zweite Doshu (d.h. Weg-Führer) Kisshomaru Ueshiba (1921-), dem dritten Sohn des Begründers. Der frühe Erfolg des Aikikai und die internationale Verbreitung ist hauptsächlich den Bemühungen von Koichi Tohei und anderen Aikikai-Shihan zuzuschreiben. Tohei reiste oft nach Hawaii und in andere Teile der USA und schrieb auch einige der populären Bücher, die in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt wurden.
Nach dem Tod des Begründers 1969 übernahm Kisshomaru Ueshiba die Führung des Aikikai und Tohei erklärte 1974 seinen Austritt aus dem Aikikai. Die wichtigsten Beiträge des Doshu lagen in der Organisation der Verbreitung des Aikido und in der Veränderung und Vereinfachung des technischen Lehrplanes. In den Aikikai-Schulen sind nach und nach die Lehrmethoden des Aikido-Begründers durch neuere pädagogische Herangehensweisen ersetzt worden. Im Aikikai wird die kämpferische Seite des Aikido weniger betont gegenüber dem Aspekt der Selbst-Verbesserung der Persönlichkeit und dem Aspekt sich zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu entwickeln.
Neben der breiten Basis an Schülern, verfügt das Aikikai zudem über die Unterstützung von bekannten Wirtschafts-Verbänden und politischen Institutionen. Diese Verbindungen zur Elite der japanischen Gesellschaft können bis auf die Vorkriegszeit zurückgeführt werden, als Morihei Ueshiba viele Schüler und Unterstützer in politischen, militärischen und wirtschaftlichen Kreisen hatte.
Aus dem Aikikai sind auch viele der führenden Shihan hervorgegangen, die heute unter dem Dach des Aikikai operieren und welche ihrerseits eine große Gefolgschaft haben. Zu diesen zählen führend Shigenobu Okumura, Morihiro Saito, Sadateru Arikawa, Hiroshi Tada und Shoji Nishio Nicht auf dieser Liste finden sich Rinjiro Shirata, Kisaburo Osawa und Seigo Yamaguchi, die schon verstorben sind. Die nächste Generation an Lehrern umfasst unter anderem Masatake Fujita, Seishiro Endo, Seijuro Masuda, Masando Sasaki, Norihiko Ichihashi und Nobuyuki Watanabe. In diese Liste gehört auch Moriteru Ueshiba, der Sohn von Kisshomaru, derzeitiger Vorstand (Dojo-cho) und der nächste Doshu. Moriteru ist als Aikido-Botschafter schon weitgereist und hat darüber hinaus auch einige Bücher über die Kunst verfasst.
1976 gründete der Aikikai die International Aikido Federation (IAF). Die IAF besitzt einen komplizierten, pyramidenartigen Aufbau und ein ausgeklügeltes Regelwerk. Diese Föderation konnte sich aber niemals als vom Aikikai unabhängig etablieren und gerät selten ins Blickfeld. Obwohl sie dem Namen nach noch existiert, konnte sie nie wirklich politischen Einfluss gewinnen.
In den letzten Jahren hat sich das Aikikai organisatorisch gesehen recht entgegenkommend verhalten. Aus diesem Grund haben sich einige größere, vormals unabhängige Gruppen wieder mit dem Hombu-Dojo vereint, nachdem diese einige Jahre lang isoliert operiert hatten.
Die zweitgrößte Aikido-Organisation, gemessen an der Zahl der Übenden, ist das Yoshinkan. Dieser Aikido-Stil wurde von Gozo Shioda (1916-1994) in den fünfziger Jahren gegründet. Shioda war vor der Krieg einer von Ueshibas Top-Schülern und sein Stil ist gekennzeichnet durch effektive Jujutsu-ähnliche Techniken und genau definierte Trainingsmethodik. Shioda hat mehrere Bücher über Yoshinkan Aikido verfaßt und ist auch häufig gereist.
Wie das Aikikai hat auch das Yoshinkan gute Verbindungen mit wirtschaftlichen und politischen Kreisen, was sich positiv auf sein Wachstum ausgewirkt hat. Die politische Kontrolle über die Organisation liegt in der Hand eines Aufsichtsrats. Der wichtigste Yoshinkan-Shihan nach Shiodas Tod war Kiyoyuki Terada. Andere bekannte Lehrer sind unter anderem Kyoichi Inoue, Takefumi Takeno, Tsutomu Chida und Hiromichi Nagano.
Der Yoshinkan gründete 1990 die International Yoshinkai Aikido Federation (IYAF). Im Gegensatz zum Aikikai ist die Struktur des Yoshinkan weniger hierarchisch und konnte so einen steten Zuwachs an unabhängigen Dojos in ihr Netzwerk verzeichnen.
1974 gründete Koichi Tohei die Organisation Shinshin Toitsu Aikido als er sich vom Aikikai lossagte. Wie der für diese Organisation auch verwendete Name Ki Society (Ki Gesellschaft) schon andeutet, betont diese Gruppe das Konzept des Ki, der dynamischen Kraft des Universums. Dieses Prinzip des Ki ist der rote Faden im Lehrplan der Ki-Society. Unter Toheis Anhängern werden auch Ki-Heilungstechniken gelehrt. In Japan hat die Ki-Gesellschaft ein Netzwerk gesponnen, das auch ins Ausland verzweigt. Die zentrale Kontrolle über diese Organisation wird vom Hauptquartier in Shinjuku (Tokyo) ausgeübt, ganz in der Nähe des Aikikai Hombu Dojo.
Tohei ist der Autor zahlloser Bücher über Aikido und Ki-bezogene Themen und ist eine der international bekanntesten Persönlichkeiten. Wie schon oben angemerkt, hat er bei der Verbreitung des Aikido in Japan und außerhalb Japans, während er noch dem Aikikai angehörte, eine sehr bedeutende Rolle gespielt. Aufgrund der bitteren Konflikte, die sein Ausscheiden aus dem Aikikai begleiteten, ist man dort nur schlecht auf ihn zu sprechen, so dass viele Aikido-Übende seinen Namen heute nicht mehr kennen.
Wenden wir uns nun dem Tomiki-Aikido zu. Das Aikido dieser Gruppe gründet sich in den Prinzipien und praktischen Übungen auf Kenji Tomiki (1900-1979). Tomiki war einer von Ueshibas ersten Schülern und vor seinem Kontakt mit dem Aikido auch ein hervorragender Judoka. Er war darüber hinaus hochgebildet und Absolvent von Japans angesehenster Hochschule, der Waseda Universität.
Tomiki wurde an dieser Universität Professor und entwickelte dort seine ganz eigenen Theorien über Aikido, die stark von der Philosophie Jigoro Kanos, dem Begründer des Judo, beeinflußt waren. Tomiki erdachte eine Reihe von Techniken und Regeln, die es ermöglichten, Aikido wie einen Sport zu betreiben. Er wollte für die Übenden eine Möglichkeit schaffen, ihren Fortschritt mit objektiven Maßstäben im offenen Wettkampf zu messen.
Tomiki schrieb über seine Theorien eine ganze Anzahl an Büchern und Aufsätzen. Er gewann eine Gefolgschaft an Gruppen in Japan und anderswo, die sich als Bestandteil des Trainings auf Wettkämpfe einließen. Tomikis Ansatz wurde aber vom größten Teil der Aikido-Gemeinschaft rundweg abgelehnt, die in dessen Theorien den genauen Gegensatz der ethischen Lehren des Gründers Morihei Ueshiba sahen.
Zwischen Tomiki-Aikido-Dojos werden heute lokale und internationale Wettkämpfe abgehalten und die Mitgliederanzahl dieser Gruppen steigt gleichzeitig mit dem weltweiten Erfolg des Aikido. Die führenden Köpfe des Tomiki-Aikido sind heute Tetsuro Nariyama und Fumiaki Shishida. Die Entscheidungsgewalt liegt in der Hand des Rates der Japan Aikido Association.
Eine andere große Schule des Aikido heißt Yoseikan-Aikido. Sie wurde von Minoru Mochizuki (1907-) gegründet, einem weiteren frühen Schüler Ueshibas und erfolgreichen Turnier-Judoka. Mochizuki wurde 1930 von Jigoro Kano in Ueshibas Kobukan-Dojo geschickt. Neben Aikido und Judo übte Mochizuki außerdem noch Katori Shinto-Ryu und Karate. Mochizuki entwickelte eine vielfältige Kunst, die Elemente aus all den Künsten beinhaltete, die er erlernt hatte. Aus diesem Grund hat das Yoseikan ein umfangreiches Curriculum, für dessen Meisterung Jahre benötigt werden.
Auch Mochizuki pflegte einen sehr theoretischen Ansatz und schrieb viele Aufsätze über ein weites Spektrum Kampfkunst-bezogener Themen. Er spielte auch eine wichtige Rolle in der internationalen Verbreitung des Aikido. Mochizuki war der erste Lehrer, der Aikido im Ausland unterrichtete. Von 1951 an blieb er für zwei Jahre in Frankreich, wo er Judo und Aikido unterrichtete. Das Yoseikan hat nur eine kleine Gefolgschaft in Japan, ist aber stark in Europa, besonders in Frankreich. Es hat außerdem eine kleine, aber hingebungsvolle Anhängerschaft in Nordamerika.
Obwohl obige Liste die größten Stile des Aikido umfasst, gibt es eine Anzahl kleinerer unabhängiger Gruppen, die es ebenfalls wert sind, erwähnt zu werden. Tendokan Aikido, gegründet vom ehemaligen Aikikai-Lehrer Kenji Shimizu hat ein erfolgreiches Dojo in Tokyo und eine große Gefolgschaft in Europa, besonders in Deutschland. Shimizu ist auch der Koautor eines erfolgreichen Buches mit dem Titel Aikido und Zen.
Takashi Kushida, ein ehemaliger Yoshinkan-Lehrer, führt in Nordamerika die Yoshokai-Organisation, welcher viele Dojos angehören. Seidokan-Aikido wurde von Rod Kobayashi gegründet, einem ehemaligen Ki-Society-Lehrer, und hat eine große Anhängerschar, hauptsächlich im Westen der USA: Shizuo Imaizumi, heute in New York , gehörte sowohl Aikikai, wie auch der Ki-Society an, und führt jetzt eine Gruppe namens Shin Budo Kai.
Es gibt eine Anzahl von unabhängigen Organisationen in England, Frankreich, Deutschland und Skandinavien. Einige dieser Gruppen haben sich aufgrund von schlechten Erfahrungen ausdrücklich von japanischen Autoritäten losgesagt.
Während ich dies schreibe ist meine größte Befürchtung, wichtige Persönlichkeiten ausgelassen zu haben. Dessen muss ich mich sicherlich schuldig bekennen und ich entschuldige mich im voraus, falls ich irgendjemandem zu Nahe getreten sein sollte. Die Kunst des Aikido ist auf eine Art und Weise gewachsen, die es für einen einzelnen praktisch unmöglich macht, alle Entwicklungen zu verfolgen. Und doch ist es diese stetige Aufblühen des Aikido, das viele Menschen auf positive Weise berührt hat und das die Kunst wieder und wieder um vieles bereichert.
von Stanley Pranin
Aikido Journal #107 (1996)
Übersetzt von Stefan Schröder
Neueste Kommentare