Aikido und die Auflösung von Berührungstabus

Eines der Felder, auf denen Aikido höchst relevant für das Leben eines Individuums ist, ist eines, über das nur wenig gesprochen wird. Es geht um Berührungen. Es ist Allgemeingut, dass Kinder, die nicht ausreichend berührt werden — besonders in den ersten Jahren — verschiedene neurotische Störungen entwickeln können, die sich bis ins Erwachsenenalter erhalten.
Die Grenzen mit denen das Berühren umgeben ist, sind von der Kultur bestimmt und variieren in den verschiedenen Teilen der Erde. Zum Beispiel Männer, die sich an den Händen halten, ein Tabu in der nordamerikanischen Kultur, sind in den arabischen Ländern ganz normal. In Südamerika gehen Männer Arm in Arm. Auf der anderen Seite dürfen sich Frauen in den USA gegenseitig viel freizügiger berühren als Männer.
In unserer Kultur ist es Männern meist dann erlaubt sich zu berühren, wenn dies in einem Wettkampf-Kontext geschieht. “Kontaktsportarten” fallen einem da sofort ein. Ob einem das gefällt oder nicht, bei allen Lippenbekenntnissen zu “Fairness” und “freundschaftlicher Konkurrenz” sind doch viele dieser Sportarten nur einen kleinen Schritt von Kriegshandlungen entfernt.
Wenn Männer und Frauen sich außerhalb einer romantischen Beziehung berühren, so ist diese Berührung normalerweise oberflächlich und mit klar definierten Grenzen versehen. Beim Tanzen, während dessen viele Berührungstabus abgeschwächt sind, beobachtet man ein interessantes Phänomen. Die Berührungen beim Tanzen reflektieren typische soziale Geschlechtsrollen: Der Mann führt und die Frau folgt. Und der Mann fordert die Frau auf. Wieder existiert eine rigide Hierarchie.
Betrachten wir nun das Berührungsverhalten im Aikido. Männer berühren Männer ohne einen Konkurrenzgedanken. Männer und Frauen berühren sich ebenfalls frei und es werden, genauso wichtig, die Rollen von Angreifer und Verteidiger regelmäßig getauscht. Auch wenn das Aikido-Training manchmal hart ist, so geschehen die Berührungen doch in einem Kontext der physischen Harmonie und des Respekts für den Partner. Soweit ich weiß, ist das Aikido in dieser Hinsicht einzigartig in dieser Freiheit des Ausdrucks, die es seinen Praktizierenden bietet.

von Stanley Pranin

 

 

Übersetzt von Stefan Schröder
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