Aikido und die traditionellen japanischen Kampfkünste 1. Teil

Eine der Aufgaben, denen ich mich während der Erforschung des Aikido hingegeben habe, ist herauszufinden, in welchem Maße O-Sensei auf traditionelle Elemente der japanischen Kampfkunstkultur und -philosophie zurückgriff und in welchem Maße er vergangene Traditionen verbannte, um seine Kunst an das Leben im 20. Jahrhundert anzupassen. Dass der Begründer des Aikido Morihei Ueshiba diesen Traditionen und Ideologien viel verdankte, ist offensichtlich. Dass er wiederum anderes veränderte und ablehnte, ist ebenfalls gesichert, auch wenn, wie ich glaube, der Umfang seiner Originalität noch wenig besprochen wurde. Um die Grundlagen für das Nachdenken ist diese Richtung zu liefern, möchte ich einige der hervorstechendsten Charakteristiken der klassischen japanischen Kampfkünste der Bushi (=Krieger), besser bekannt als Samurai, kommentieren.

Ich bin keine Autorität auf dem Gebiet der traditionellen Kampfkünste, aber ich habe mir ein grundlegendes Verständnis der historischen Zusammenhänge angelesen, die ein interessantes Licht auf die Entstehung und die Einzigartigkeit des Aikido werfen. Man muss zum Beispiel verstehen, dass der Aufstieg einer aristokratischen Kriegerklasse im Japan des 9. Jahrhunderts die Folge von politischen und militärischen Notwendigkeiten war. Die hochentwickelten Kampfkünste des Bushi wurden über viele Generationen hinweg auf dem Schlachtfeld entwickelt. Der Zen-Buddhismus, dessen Philosophie genau auf die Bedürfnisse des gefahrvollen Lebens der Bushi angepaßt war, wurde von der Kriegerklasse sofort nach seiner Einführung im Japan im 12. Jahrhundert übernommen. Über das Verhältnis zwischen Zen und den Bushi schrieb der Philosoph D. T. Suzuki:

… Es war also selbstverständlich für jeden besonnenen Samurai sich dem Zen mit dem Gedanken der Überwindung des Todes zu widmen. Das Zen hat den Anspruch keine schwierige Lehre zu benötigen und kein moralisches System oder Ritual, und dies muss für die vergleichsweise schlichten Gemüter der Samurai sehr attraktiv gewesen sein. Es gab einen logischen Zusammenhang zwischen dieser psychologischen Aussage und der praktischen Lehre des Zen.

Zen und die japanische Kultur, S. 72.

Zen, von Natur aus anpassungsfähig, trug weder zur Änderung der historischen und politischen Funktion der militärischen Klasse bei, noch trug es zur Missbilligung der brutalen Akte der Bushi bei. Stattdessen statte es den einzelnen Samurai mit der “spirituellen Technik” aus, die es ihm besser ermöglichte, mit seinem Leben zurechtzukommen. Der “amoralische” Standpunkt des Zen bemühte sich um die Erleuchtung des Individuums und kümmerte sich größtenteils nicht um Politik. Im Zen liegt der Schwerpunkt auf der Kultivierung der Gesinnung und von Verhaltensmustern im Einklang mit spirituellen Zielen. Moralische Fragen bezüglich der Gewalt und des Blutvergießens, zu der ein Bushi durch seine professionelle Funktion bestimmt war, wurden nicht thematisiert, da der Gehorsam gegenüber seinen Vorgesetzten seine heilige Pflicht war, auch wenn er nicht mit deren Entscheidungen einverstanden war. Er tat seine Pflicht, aber hinterfragte nicht die Natur und den Geltungsbereich dieser Pflicht. Die Einstellung der Samurai zu diesem Thema wird durch eine Passage eines Textes erhellt, die von Suzuki übersetzt wurde. In ihr wird der Schwertmeister Seigen widerwillig in einen Kampf mit einem angeberischen Krieger verwickelt: ” … Ich will niemanden verletzen. Ich habe diese Herausforderung nur angenommen, da ich es nicht für eines Gentleman würdig hielte, die so eindringliche Bitte des Fürsten dieser Provinz abzulehnen.” (Ibid. S. 211). Die alles bestimmenden Prinzipien, die das Leben des Bushi regierten, waren die Loyalität und der Dienst. Diesem Schicksal ergab er sich.

Mit dem Aufstieg des Tokugawa-Bakufu (=Shogunat) im Jahre 1603 begann eine lange Periode des Friedens unter der harten Führung einer Abfolge von Militärdiktatoren. Diese Zeit trägt den Titel “Edo-Periode” und umfasst zweieinhalb Jahrhunderte, bevor die Meiji-Restoration ihr 1868 ein Ende setzte. Ohne die Herausforderung der Kriegsführung musste die Kriegerklasse, die direkt dem Tokugawa-Shogunat unterstellt war, neue Betätigungsfelder erschließen. Diese historischen Gegebenheiten ermöglichten die Umwandlung der vielen Kampf-orientierten Bujutsu (=Kampfkünste) in die sogenannten Budo (=Kampf-Wege), also Formen, die während Friedenszeiten als Methode zur Vervollkommnung der Persönlichkeit angesehen werden. Der Kampfkunsthistoriker Donn F. Draeger kommentiert dies:

Auch wenn die technischen Grundlagen des klassische Budo den Bujutsu entnommen sind, so war ihr Zweck dennoch nicht im Kampf eingesetzt zu werden. Manche wenngleich nicht alle der Bujutsu wurden für das Budo-Training verändert und metaphysisch eingerahmt. Während das Bujutsu die Form in den Vordergrund stellt, die die höchste Kampfeseffizienz verspricht, wird im Budo die Form nur ein Mittel zum Zweck, nämlich die eigene Persönlichkeit zu verstehen, das Sein und die Natur zu ergründen und die eigene Persönlichkeit zu perfektionieren.

Classical Budo, S. 33

Dieser Trend wurde von der Regierung gefördert da er es ermöglichte, die Energien der militärischen Klasse zu entfalten, die darüberhinaus auch gedrängt wurde, ihren militärischen Eifer durch literarische Bemühungen zu dämpfen. Die Geburt des klassischen Budo war aber keineswegs eine Abkehr von der Ideologie des Bushido-Kodex. Dies folgt logisch aus der Tatsache, dass die Gründer dieser Formen durchweg der militärischen Klasse entstammten, ebenso wie auch die Praktizierenden, zumindest zunächst. Später, als auch gewöhnliche Leute das Studium der Budo-Disziplinen aufnehmen konnten (insbesondere die Waffen-losen Systeme), bestand die traditionelle kriegerische Mentalität. Auch wenn tatsächlich nur wenige Individuen dem Krieger-Kodex wortwörtlich folgten, kommt es uns hier nur darauf an, dass das vertikal strukturierte Klassenmodell es schaffte, ein Ideal für die gesamte Kultur zu werden und über Generationen von Japanern intakt überliefert zu werden. Nach der Meiji-Restoration 1868 wurde der Einfluß der Philosophie der Selbstaufopferung und des Gehorsams in der Bevölkerung sogar noch verstärkt, da seine Prinzipien nun im Hinblick auf die Loyalität zwischen dem Kaiser und der japanischen Nation neu interpretiert wurden. In veränderter Form war dies ein fundamentales Konzept hinter der Mentalität Japans während des erstarkenden Nationalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und es war tief eingegraben in der Psyche der japanischen Soldaten des Zweiten Weltkriegs.

Der Samurai ist uns überliefert als Symbol der japanischen Kriegertradition und obwohl er sich erheblich von seinem westlichen Gegenpart, dem mittelalterlichen Ritter, unterscheidet, so ruft doch seine Erwähnung ein abenteuerliches Image von Wagemut und Courage in uns hervor. Gleichzeitig schwingt, durch seine philosophische Orientierung und professionelle Orientierung, immer der “Tod” mit. Militärisch gesprochen stellt der Krieger die hochwertigste Waffe der feudalen Militärkulisse dar. Oftmals würde er auf dem Schlachtfeld dem Tode entgegeneilen, auf diese Weise wohl um seine gesicherte Ehre wissend. Manches Mal nahm ihr Todeswunsch fanatische Züge an. Der berühmte japanische Autor Yukio Mishima, der sich 1970 auf sensationsheischende Weise tötete, was zu vielerlei sozialen Auswirkungen führte, schrieb über das Hagakure*:

“Die Aufgabe des Samurai ist der Tod. Wie friedfertig auch die Zeiten, der Tod ist des Samurai oberste Motivation. Ein Samurai, der den Tod fürchtet oder meidet, hört im gleichen Augenblick auf ein Samurai zu sein.”

Yukio Mishima über das Hagakure, S. 27.

von Stanley Pranin
Aiki News #29 (April 1978)
Übersetzt von Stefan Schröder
Aus Aikido Journal

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