Anatomie eines Angriffs

Wir empfinden etwas als einen Angriff, wenn wir glauben, unser Leben oder unser Wohlbefinden seien in Gefahr – oder wenn wir meinen, daß man in unser Territorium, sei es physisch oder psychisch, eindringt.
Wenn sich beispielsweise ein dreijähriges Kind mit wirbelnden Armen einem Erwachsenen nähert, wird so etwas normalerweise nicht als Angriff gewertet. Der Erwachsene betrachtet die Handlung des Kindes nicht als körperliche Drohung. Derselbe Erwachsene würde sich aber, wäre er Ziel eines Angriffes seitens eines Gegners mit Gewehr ganz sicherlich angegriffen fühlen.
Stellen wir uns einen dritten Fall vor, bei dem sich ein talentierter Kampfkünstler konfrontiert sieht mit einem Mann, der ein Messer besitzt.
Es ist denkbar, daß solch ein Mensch – durch sein jahrelanges Training und seine geistige Vorbereitung – sich ganz und gar nicht verhält, als wäre er in einer Notsituation, sondern vielmehr eine Maßnahme ergreift, die der Situation angemessen ist.
In allen drei Beispielen hängt die Frage, ob ein Angriff stattgefunden hat oder nicht, von der Wahrnehmung der Person ab, gegen die vorgegangen wurde – oder der Person, die die Szene auswertet.
Im Reich der Psychologie kennen wir eine analoge Situation, die noch unendlich komplexer sein kann. Wenn ein Individuum glaubt, daß eine Aktion (ausgenommen offensichtliche physische Aggression) oder Worte oder die Kombination von beidem eine Bedrohung seines geistigen oder emotionalen Wohlseins ausmacht, oder einen Einfall auf sein seelisches Territorium bedeutet, dann wird er sich wahrscheinlich verteidigend verhalten oder zum Gegenangriff übergehen.
Auch hier ist nicht das äußerliche Ereignis ausschlaggebend, sondern vielmehr die Wahrnehmung des Ereignisses.
Ein Beispiel: wir können eine Bemerkung eines Freundes oder Familienmitgliedes völlig ignorieren – hörten wir die gleichen Worte von unserem Arbeitgeber, könnten sie äußerst bedrohlich wirken: hält dieser doch die Schlüssel zu unserem wirtschaftlichen Wohl in Händen.
Desgleichen könnte jemand einen Angriff wahrnemen, selbst wenn er gar nicht der beabsichtigte Adressat einer aggressiven Äußerung oder eines entsprechenden Verhaltens war.
Nehmen Sie den Fall eines eifersüchtigen Mannes, der sich „persönlich angegriffen“ fühlt, wenn eine dritte Partei seiner Frau oder Geliebten (die er psychologisch als sein Eigentum betrachtet) überdeutliche Aufmerksamkeit schenkt .
Es ist nicht einmal notwendig, daß die „angegriffene“ Person anwesend ist. Ein schlichter Bericht über eine Aggression kann ausreichend sein, um jemanden dazu zu bringen, sich „angegriffen“ zu fühlen.
Die drei Bestandteile also, die notwendig sind, um einen „Angriff“ zu ergeben, sind: ein Opfer (jemand, der sich bedroht fühlt), ein Angreifer (der sich seiner Rolle bewußt ist oder auch nicht) und ein Angriffsinstrument – ein greifbares oder ein nicht greifbares.
Wenn wir ausgehen von der Prämisse, daß ein Angriff von der Wahrnehmung des Opfers oder des Beobachters eines Ereignisses abhängt, dann kann praktisch jeder oder jede Gruppe die Rolle des Angreifers spielen.
Konsequenterweise würde jeder Versuch unvollendet bleiben, eine Liste mit Eigenschaften zu erstellen, die „Angreifer“ charakterisiert. Dennoch denke ich, man kann sicher davon ausgehen, daß es bestimmte Stereotype gibt, die die meisten von uns als einen „Angriffs-Typ“ identifizieren würden: ein körperlich großer Mann mit „finsterem“ Gesicht, ein bewaffneter Mensch, der gerade dabei ist, einen Akt körperlicher Gewalt zu begehen, eine verbal aggressive Person, jemand, der die Grenzen unseres persönlichen Raumes überschreitet, die emotional aufgewühlte Person, jemand in einer Machtposition, tatsächlich oder eingebildet, mit der wir nicht auf gutem Fuß stehen und so weiter. Der Angreifer kann auf einer höheren Ebene auch als Gruppe auftreten. Nazi-Deutschland zum Beispiel, Kommunisten, Imperialisten, radikale Studenten, der Ku Klux Klan usw.
Wenn der Angreifer seine Macht oder Stärke auf eine von unzählbaren möglichen Arten zeigt, offenbart das Opfer auf der anderen Seite eine Art von Schwäche.
Welche gedachten Bilder lockt das Wort „Opfer“ hervor? Vielleicht die körperlich kleine, schwach wirkende Person, jemand, dessen Haltung und Körpersprache Passivität und Rückzug suggerieren, das verbal unsichere oder unartikulierte Individuum, Personen in Geldnot oder jemand, der nicht im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte ist, würde zu unserer vorgefaßten Meinung über das „typische Opfer“ passen. Und so, wie zuvor eine Gruppe oder eine Institution als Angreifer beschrieben werden konnte, so kann auch eine Gruppe oder eine Gesellschaftsschicht als Opfer beschrieben werden (die Armen und Ungebildeten, die Dritte Welt, Steuerzahler, Arbeiter usw.).
Bei unserer Erkundung der Mechanismen eines Angriffes haben wir verschiedene Male angespielt auf den Gebrauch einer Waffe oder ein bestimmtes Verhaltensmuster, das wir als „Angriffs-Instrument“ bezeichnen können. Das kann ein dingliches Objekt sein: ein Stock, ein Messer, Gewehr, Faust usw. Weniger greifbare Beispiele für Machtinstrumente wären etwa: unterschiedliche Formen verbalen Ausdrucks oder Zwang, der zu emotionaler Erregung führt ( Schreie, Kritik, Beschimpfung), die Androhung körperlicher Kraft („Ich schlag’ dir die Fresse ein!“), die Anwendung von wirtschaftlichem Druck („Wenn du deinen Job behalten willst, tust du, was ich dir sage!“), oder vielleicht die Ausübung von sozialem oder politischem Druck („Ganz offen, Herr Senator, wenn diese Rechnung nicht durchgeht, bin ich nicht sicher, ob unsere Organisation auch Ihren nächsten Wahlkampf unterstützen kann“).
Sogar der „Ruf“ einer Person kann zur psychologischen Waffe stilisiert werden von jemandem, sich versteht auf ihren Gebrauch oder Mißbrauch – wie Sie wollen („Herr X. ist ein echtes Trampel!“ oder „Der Kerl macht sich an jede Frau ran“.). Solche Beispiele von Gewaltanwendung reichen von derb und offensichtlich bis zu unglaublich subtil.
Was kann ein Aikido-Praktizierender gewinnen, wenn er diese „Anatomie eines Angriffs“ versteht? Wir alle werden zu „Angreifern“ und „Opfern“, willentlich oder nicht, bei vielen Gelegenheiten während unseres gesamten Lebens. Vorausgesetzt, daß viele von uns O-Senseis Kampfideal für ein wichtiges und brauchbares Modell halten, das systematisch in unser tägliches Leben eingebaut werden soll und nicht allein „blauer Dunst“ ist, dann sollten wir einen genauen Blick auf uns selbst werfen und versuchen, herauszufinden, wie die anderen uns sehen. Rufen wir Vertrauen oder Mißtrauen hervor, Liebe oder Angst, Respekt oder Mitleid? Wie können wir unser Bild verändern, so daß wir die Antwort wachrufen, die wir ersehnen? Welche Verhaltensmuster können wir nutzen oder vermeiden, um uns mit den anderen um uns herum zu harmonisieren? Ernsthaftes Nachdenken über solche Dinge kann zu einer bewußten Anwendung von Aikido-Prinzipien auf allen Gebieten unseres Lebens führen – und umgekehrt den konstruktiven Einfluß des Aikido auf die Gesellschaft als Ganzes verstärken.
von Stanley Pranin
Aiki News #32 (December 1978)
Übersetzt von Christiane Schiemann

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