Ausbildung und Training

Da ich meine Schul- und Universitätsausbildung in den USA und dem Vereinigten Königreich genossen habe, wenn auch zugegebenermaßen vor langer Zeit, und da ich nun schon an die zwanzig Jahre Lehrerfahrung an japanischen Universitäten besitze, glaube ich in der Lage zu sein, einen Vergleich zwischen diesen westlichen Ländern und Japan ziehen zu können. Da ich in diesen drei Ländern auch Aikido praktiziert habe, den größten Teil davon in Japan, kann ich diese Vergleiche auch auf das Feld der Kampfkünste, wie Aikido eine ist, ausdehnen. Ich beginne mit der Betrachtung der Ausbildung und der Kampfkunst-Ausbildung im allgemeinen. In folgenden Artikeln möchte ich die Konzepte des Lehrens, des Lernens und der Lehrpläne genauer untersuchen.
Selbstverständlich ist in jeder Gesellschaft ein Aspekt der Ausbildung folgender: Es ist eine Vorbereitung auf die Rolle eines Bürgers und eine Gesellschaft kann nicht funktionieren, wenn ihre Mitglieder nicht einen minimalen Standard an sprachlichen und kulturellen Fähigkeiten besitzen, so dass sie an den üblichen sozialen Aktivitäten teilhaben können, wie heiraten, den Militärdienst ableisten, sich politisch oder zivil engagieren. Auf dem Feld der Ausbildung müssen Schüler und Studenten ihre standardisierten Prüfungen absolvieren können, um einen Abschluß zu erlangen.
Im öffentlichen Leben Japans spielen Autoritäten eine prominente soziale Rolle, und dies in einem Maße, das Ausländer bemerkenswert finden. Die japanische Gesellschaft wird manchmal eine “nanny”-Gesellschaft genannt (nanny=Amme). Es ist immer jemand da, der soziales Verhalten beaufsichtigt, der Anweisungen gibt oder Hilfestellung bietet, selbst für so einfache Aktivitäten wie das Fahren mit dem Bus oder Zug, in der Schule oder in Geschäften und so bleibt sehr wenig Freiraum für persönliche Initiative. Diese Art des Denkens ist besonders an japanischen Hochschulen zu beobachten, wo jede denkbare Handlungsmöglichkeit geregelt und so jedes Verhalten kontrolliert wird, damit ja nichts schief gehen kann. Natürlich geht dennoch mal etwas schief und zu diesen Gelegenheiten habe ich beobachten müssen, dass Universitätsstudenten, die ich für reife Erwachsene gehalten hatte, passiv auf eine Autorität warten, die die Verantwortung übernimmt und Anweisungen gibt. Japaner gehorchen unausweichlich und ohne Nachfragen jedem, der mehr zu Wissen scheint, wie einem Universitätsprofessor, einem Führer oder “Experten”, besonders wenn er eine Uniform trägt. Die Kampfkünste passen sehr gut in dieses Autoritätsmodell und ich wundere mich keineswegs, dass sie hier in Japan, mit seiner Geschichte an Militärregierungen, aufgeblüht sind. Das Training in den Kampfkünsten wird oft als exzellentes Mittel zur Entwicklung der Persönlichkeit bezeichnet, aber in Japan kommt die Kehrseite – die Ura-gawa – eines solchen Trainings zum Vorschein: Es ist auch ein exzellentes Mittel, um soziale Kontrolle auszuüben.
Eines der fundamentalen Ziele von Ausbildung ist der Sozialisationsprozeß außerhalb der Familie. Ein Kind tritt in die relativ künstliche Gesellschaft der Schule ein und schreitet in diesem System fort, bis es in der Gesellschaft funktionieren kann, gewöhnlich ist die Ausbildung mit dem Abgang von der höheren Schule oder der Universität abgeschlossen. Dieser Sozialisationsprozess hat mindestens zwei Gesichtspunkte: Als Teil einer Gruppe zu funktionieren und die Grenzen dieser Gruppe zu erfahren. Der Unterschied zwischen Ausbildung und Training, der in der japanischen und englischen Sprache vorhanden ist, überschreitet diese Gruppen/Individuen-Unterscheidung. Beide haben vieles gemeinsam, so dass man viele der Aktivitäten in der Schule sowohl als Ausbildung, als auch als Training ansehen kann. Dennoch habe ich den Verdacht, dass die Ausbildung an sich in Japan eher als eine Art des Trainings angesehen wird. Den Unterschied zwischen diesen beiden halte ich aber für fundamental.
Von Staats wegen, wird die Ausbildung als ein Werkzeug zur Erschaffung von vorbildlichen Bürgern angesehen, aber für mich ist sie ein Mittel, um eines jeden Potential als Persönlichkeit auszuschöpfen, eine Entwicklung, die auf einer soliden Individualität beruhen muss. Das ist der erste Aspekt. Ein anderer Aspekt der Ausbildung ist ihre völlige Unabhängigkeit von irgendeinem speziellen Zweck. Die Umsetzung eines persönlichen Potentials eines Menschen ist selbst der Zweck für die Ausbildung. Darüber hinaus ist kein weiterer Grund erforderlich, keine Schaffung eines “Modellbürgers”. Aus diesem Grund trägt das Individuum letztlich selbst die Verantwortung für seine Ausbildung und nicht der Staat.
Ich blicke mit einiger Nostalgie auf meine eigene Schulzeit zurück. Diese spielte sich in einer typischen englischen “public school” (die in Wirklichkeit eine Privatschule ist) ab, die Klassen zählten selten mehr als 20 Schüler. Das zahlenmäßige Lehrer/Schüler-Verhältnis war niedrig und der Lehrplan gab uns ausreichend Zeit, um auch ungewöhnliche Denkpfade zu beschreiten, auch über das für die Prüfungen nötige Maß hinaus. Ich eignete mir eine kritische Haltung gegenüber den Äußerungen von Autoritäten an. Es gab eine ständige Bereitschaft zu hinterfragen und dies geschah, natürlich in völliger Übereinstimmung mit den intellektuellen Methodiken der alten Griechen, besonders Sokrates. Ich benutze die sokratische Methode noch heute bei meinen Promotionsstudenten und sie sind davon einigermaßen genervt. Statt ihnen Fragen zu stellen, sagen meine japanischen Kollegen ihren Studenten lieber, was sie tun sollen. Das letztgenannte Lehrmodell ist in Hochschulen und Universitäten die Norm und einer meiner ersten Aikido-Lehrer sagte mir einmal, ich sollte mich nicht anmaßen, diejenigen mit offensichtlich überlegenem Wissen, wie Professoren, zu hinterfragen. Es ist die Aufgabe der Studenten herauszufinden, was derjenige mit dem größeren Wissen weitergeben möchte. Wie sie das tun, ist eine andere Frage. Ich habe unter den japanischen Studenten nur wenige Anzeichen für eine solche kritische Einstellung gefunden und ich vermute, dass die Ziele der Ausbildung durch die Ziele des Trainings insubordiniert werden.
Mir fallen zwei Beispiele ein, in denen die Ausbildung ein Training ist. Eine ist das Lesen und Schreiben der japanischen Sprache; das andere ist das Erlernen einer Kampfkunst wie Aikido. Die chinesischen Kanji (Schriftzeichen) zu meistern, die zum Lesen einer Zeitung nötig sind, ist eine ungeheuere Aufgabe, für die man viele Jahre braucht und die weit mehr erfordert, als das Erlernen von Latein oder auch Griechisch. Ich kenne keine interessante Methode zum Erlernen der Kanji, nur auswendig lernen. Das Lernen der Kanji ist gleich am Anfang der Schullaufbahn ein Muster für das Trainings-Lernen. Natürlich liegt ein eigener Wert in dieser Form des Lernens durch Training, aber die Gefahr besteht darin, jede Ausbildung als Training zu betrachten, das jeweils nur einem speziellen Ziel dient, wie dem Bestehen einer Prüfung.
Sich die Kanji anzueignen verfolgt einen sehr praktischen Zweck: Ohne dieses Wissen, kann man kein Buch und keine Zeitung lesen. Die Ziele des Lernens einer Kampfkunst wie Aikido sind viel weniger deutlich. Aikido wird oft ein modernes Budo genannt, aber der Bedeutungsumfang dieses Wortes ist besonders dem modernen Japaner nicht geläufig. Das Lehrmodell für das Erlernen des Aikido ist aber wieder das Trainingsprinzip, besonders in japanischen Universitäten und Schulclubs: Komplexe Bewegungen werden durch konstante Wiederholung eingeübt, bis sie zur zweiten Natur werden.
Es gibt eine Vielzahl an Aktivitäten, so wie Jogging, deren Training nützlich ist, aber die kein anderes Ziel brauchen, als die Tätigkeit selbst. Natürlich kann man auch laufen, um Preise zu gewinnen oder um fit zu bleiben, aber man kann auch laufen weil es Spaß und Freude macht. Warum sollte man ein modernes Budo wie Aikido betreiben? Vielleicht um fit zu bleiben oder um sich selbst verteidigen zu können, vielleicht auch wegen der “spirituellen” Inhalte des Trainings. Das sind alles gute Gründe, genauso wie der Grund, dass man es um seiner selbst willen tut, ohne weitern Grund. In diesem Sinne kann Aikido ein Bestandteil der persönlichen Bildung sein.
Aus:Aikido Journal

von Peter Goldsbury

Published Online

Übersetzt von Stefan Schröder
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