Das Absolute berühren: Aikido versus Religion und Philosophie Teil 3

Die Omoto-Religion
Ich habe weiter oben festgestellt, daß die Religion des Gründers eine Verschmelzung aus Shintoistischen und Buddhistischen Glaubenssätzen und Meditationspraxen war, die außerdem mit Omoto-Ritualen angereichert war. Was für einen Einfluß hatte die Omoto-Schule auf den religiösen Standpunkt des Gründers? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, in jedem Fall ist aber eine weitere Erklärung der Hintergründe nötig.

Erstens erwähnt die oben gegebene kurze Skizze des Shinto nichts über den Kontakt zwischen der menschlichen Welt und der Weld des Göttlichen. Die Gottheiten nutzten die „schwimmende Brücke des Himmels“ um herabzusteigen, aber es werden keine Absichten erwähnt, in die andere Richtung zu reisen. Für katholische Christen wird der „offizielle“ Kontakt zwischen Gott und der Welt durch den Priester hergestellt, aber Priester müssen keine speziellen persönlichen Kräfte haben, um zum Beispiel die Taufe als Sakrament zu aktivieren.

Der religiöse Standpunkt des Gründers war ein ganz anderer. Zunächst erlegt der Shintoismus keine Beschränkungen auf in der Art und Weise, wie Gottheiten und Menschen interagieren können, und der Gründer kam aus einer Gegend Japans, die für solche eine Interaktion besonders berühmt ist. Die Kumano-Präfektur hatte eine besondere Bedeutung im Shintoismus, und das Mönchskloster auf dem Berg Koya ist immer noch ein Hauptzentrum des japanischen Buddhismus. Die Gegend war bevölkert von yamabushi und Schamanen, die alle begabt waren für eine spezielle Verbindung mit dem Göttlichen. Nao Deguchi beispielsweise, die Gründerin des Omoto-kyo, war eine Schamanin und glaubte, daß eine Gottheit, Ushitora-no-Konjin, durch sie sprach. Reikai Monogatari, Onisaburo Deguchis umfangreiche ‘Erzählungen aus der spirituellen Welt’ werden für Erinnerungen an eine wirkliche spirituelle Reise gehalten, gemacht in einem tranceartigen Zustand. (17)

Der Glaube, der all dem zugrunde liegt, war der, daß bestimmte Personen nach einer speziellen Vorbereitung – gewöhnlich einem strengen asketischen Training – bestimmte Rituale anwenden und so die kami veranlassen konnten, aus deren Welt zu der der Menschen zu kommen (das heißt, wenn die kami ihrerseits nicht uneingeladen kamen, was sie oft taten), oder selbst den Grenzen des Körpers zu entfliehen und die spirituelle Welt zu besuchen. (18) Ich glaube, daß Christen all das akzeptieren könnten mit unterschiedlichen Graden von Unbehagen, je nach ihrer Ausrichtung. Der Spiritualismus ist dem Christentum nicht fremd, aber die Offenbarung Gottes wird zu ernst genommen, um sie die Hände von irgendwelchen Einzelnen zu geben. Mehr noch, wegen ihrem Glauben an die Fleischwerdung Christi glaube ich, katholische Christen würden sich schwertun damit, Visionen oder Prophezeihungen zu akzeptieren, die wichtige Dinge einem jedem enthüllen, nicht aber dem Visionär oder dem Propheten.
Zweitens war Omoto eine von Japans „Neuen Religionen“. So, wie Menschen wie Schamanen in der Lage waren, besondere Beziehungen zu den Gottheiten zu haben, an die sie glaubten – Beziehungen, die auch Reinkarnation oder spezielle Offenbarungen der Gottheiten beinhalteten – so gab es auch eine entsprechende Tendenz, diese intensiven Beziehungen in eine neue Religion münden zu lassen. Diese Tendenz kam, so glaube ich, durch das Clan-Wesen, das charakteristisch ist für die japanische Kultur. So war Nao Deguchi ursprünglich ein Mitglied der Konkokyo, einer Religion, in deren Mittelpunkt eine Gottheit namens Konjin stand, doch nachdem ihr wachsender Ruhm begann, Schüler anzuziehen, verließ sie diese Religion und fand Omoto-kyo. Diese Religion wurde mit Onisaburo Deguchi zu einer großen spirituellen Bewegung, und obwohl sie nicht mehr die Macht hat, die sie einst besaß, gibt es einige Aikido-Bekanntschaften hier in Hiroshima, die Omoto-Anhänger sind und die Riten praktizieren.

Es ist also nicht gerade überraschend, daß in den turbulenten Zeiten der Meiji-Restauration und der Ausdehnung Japans als Militärmacht „Neue Religionen“ wie Omoto dazu tendierten, Utopien zu predigen: der bevorstehende Anbruch eines neuen goldenen Zeitalters, das der verdorbenen Vergangenheit und Gegenwart ein Ende setzen würde. Eine Grundeigenschaft des Omoto war die Idee, alle Religionen in universeller Brüderschaft zu vereinen. Das war das „umspannende Konzept“ hinter Onisaburo Deguchis „World Religious Federation“, die 1925 zusammenkam.

“Onisaburo behauptete, daß alle Religionen vom selben göttlichen Impuls abstammen, der von nur einem Gott ausgeht. Doch dieser Impuls fiel in höchst unterschiedliche kulturelle Umgebungen, und in Epochen, die geschichtlich weit auseinanderlagen, so daß sich Religionen mit großen Kontrasten bildeten. Egal wie unterschiedlich die aussehen mögen: durch die Kraft ihres gemeinsamen Ursprungs sind alle Religionen Brüder und Schwestern und sollten sich gegenseitig ehren und respektieren. Eigentlich sollten wir die Variation im Garten der Religion hoch achten. Wer möchte, daß alle Blumen gleichfarbig sind?“ Deguchi glaubte auch sehr an den Gebrauch des Esperanto, einer “Universal-Sprache, die helfen soll, die Verwirrung der Sprachen, die es schon gibt, zu überwinden“ – was eine Hilfe sein würde für diese „heilige Religion von Liebe und Brüderschaft.“ (19)

In all dem liegt eine gewisse Naivität. Erstens ist es schlicht falsch, daß eine künstliche Pseudo-Sprache wie das Esperanto jemals die Sprachkulturen ersetzen könnte, die sich über Jahrtausende entwickelt haben, geschweige denn, sie „zu überwinden“, was immer das heißen mag. Sprache funktioniert nicht auf diese Weise. Zweitens ist die „Vereinigung“ aller Religionen ein Luftschloß. Religionen neigen zur engen Verknüpfung mit der Kultur, in die sie eingebettet sind, und der Shintoismus ist gewiss keine Ausnahme. Die Vorstellung, daß so verschiedene Religionen wie der Katholizismus, der Protestantismus und der Islam sich vereinigen unter der Führung des Autors einer Erzählungssammlung wie dem Reikai Monogatari ist keine, die man ernst nehmen könnte. Ich glaube nicht, daß der durchschnittliche katholische Christ oder Moslem seine Religion als eine von vielen Blumenarten sieht. Drittens, vorausgesetzt die Idee von der „Vereinigung“ der Religionen unter einem Führer hat überhaupt einen Sinn, ist Omoto-kyo ein einzigartig schlechtes Beispiel, um als Kopf zu dienen. Omoto war selbst ein Ableger vom Konkokyo und produzierte selbst weitere Ausläufer wie Seicho-no-ie. (20)

Manchmal wird gesagt, Aikido sei keine Religion an sich, aber das Aikido-Training „komplettiere“ oder „ergänze“ religiöse Glaubenssätze und Praktiken. I frage mich, ob diese typisch japanische Denkweise nicht Spuren der oben beschriebenen Omoto-kyo-Idee aufweist. Die Idee, das Aikido-Training ergänze jemandes religiöse Aktivität ist harmlos genug, aber dies ist ganz anders als der Gedanke, daß eine Religion wie das Christentum, zum Beispiel, oder der Islam irgendwie „unvollkommen“ seien und daß eine Kampfkunst, obgleich basierend auf der Liebe, sie zur Perfektion bringen könne. Ich würde nicht erwarten, daß ein durchschnittlicher Christ oder Moslem diese Denkweise freundlich aufnimmt. Es gibt auch ein terminologisches Problem. Es mag wahr sein, daß das Aikido keine Religion ist in dem Sinne, daß eine Körperschaft von Menschen vereint ist in den gleichen Glaubenssätzen bezüglich des Göttlichen, aber der Gründer war klar der Ansicht, daß er engagiert war in einer Aktivität, die, mit allen Absichten und Vorsätzen, religiös war.
Das Göttliche „berühren“

Da ist noch eine weitere wichtige Sache, die bei jeder Untersuchung der religiösen Praktiken des Gründers und ihrer Bedeutung für das Aikido berücksichtigt werden muß: der Gebrauch, den er von dem machte, was wir lose „Meditation“ nennen, Techniken wie chinkon-kishin, und die Rolle der Sprache, oder Klänge bei der Meditation. Dieses letzte wird gemeinhin kotodama (‘Welt-Geist’) genannt und spielt vermutlich eine herausragende Rolle im spirituellen Schema der Dinge des Gründers. Chinkon-kishin wird für gewöhnlich vor dem Aikido-Training praktiziert in der Form des funa-kogi (‘Boot-rudern’) und furitama (‘den Geist schütteln’) und als beruhigende Übung hinterher, aber ich habe wenig Zeugnis von einer kotodama-Praxis im heutigen Aikido gefunden.

Ein Christ merkt schnell, wie wichig das Gebet ist. Von klein auf brachten meine Eltern mir bei, niederzuknien und mein Gebet zu sprechen, bevor ich abends ins Bett ging, und ich bin sicher, daß andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Als ich älter wurde, merkte ich, daß die meisten Gebete formelhaft waren, und daß wiederholte Anrufung der Formel einen Effekt hatte, der weit über der Bedeutung der Worte selbst lag. Der Rosenkranz ist ein gutes Beispiel dafür. Noch später wurde mir der Wert des inneren Gebetes klar, das gar keine Worte benötigt. Der Ausdruck „Meditation“ wurde manchmal sowohl für die Anrufung oder Beschwörung der Gebetsfloskeln als auch für die Art des geistigen Gebetes gebraucht, der „Kontemplation“ genannt wird. Er wird auch gebraucht für das, was man „erweitertes Bewußtsein“ nennen könnte. Hier jedenfalls gibt es wichtige Unterschiede, die erklärt werden müssen.

Lassen Sie uns anfangen mit der generellen Frage nach der Beziehung vom Wort zur Welt. Im Zitat oben, identifizierter der Gründer den kotodama-Klang SU als das ‘Wort’ in der Bibel. Das „Wort“, auf das er sich bezieht, ist natürlich der Begriff, der vom Autor des vierten Evangeliums gebraucht wurde – allerdings schrieb Johannes Griechisch, und so heißt es bei ihm „logos“. Dieses Wort hat einen kulturellen Kontext, und der Autor des vierten Evangeliums verstand diesen Kontext nicht nur, sondern gab dem Begriff eine besondere Bedeutung in seinem Evangelium. Logos ist das Substantiv zum griechischen Verb lego (sagen) und es ist ziemlich merkwürdig, daß das Nomen im Griechischen ein größeres Bedeutungsfeld hat als das Verb. „Logos“ wurde von dem Philosophen Heraklit (ca. 500 v. Chr.) gebraucht als Titel seines Diskurses, aber sogar in dieser Zeit wurde der Begriff erweitert zur Bedeutung „Wörter“, „Abhandlung“, die Logik oder Vernunft hinter dem Diskurs, und Vernunft an sich. In den ersten Sätzen des vierten Evangeliums, dessen lateinischer Text vielleicht den Katholiken meiner Generation geläufig ist, versucht Johannes die Dreifaltigkeit zu erklären. Das Evangelium beginnt so:

“Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dieses war im Anfang bei Gott. … Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.”(21)

In diesen Worten findet sich gar kein Verweis auf die Schöpfung, obwohl später auf sie hingewiesen wird als das Werk des „Wortes“. In den oben zitierten Versen versucht Johannes, den Prozeß der Selbsterkenntnis und Eigenliebe in Worte zu fassen, der hinausläuft auf Vater, Sohn und Heiligen Geist. Natürlich kann „logos“ im weitesten Sinne als kotodama betrachtet werden, denn das Evangelium wird als Wort Gottes betrachtet, aber in diesem Fall wäre die gesamte Bibel kotodama, und nicht bloß „logos“.

Es stellen sich zwei Probleme, wenn ein Westlicher versucht, sich mit der kotodama-Lehre auseinanderzusetzen. Eines sind die kulturellen Voraussetzungen des Shintoismus, die oben diskutiert wurden. Im Shintoismus gibt es keine Beschränkung für die kami in der Form, wie sie Menschen erscheinen können. Also ist es durchaus nachvollziehbar, daß ein kami sich in Worten zeigen kann. Natürlich folgt daraus nicht das Gegenteil, daß Worte, ausgesprochen in einer bestimmten Art, notwendigerweise die Anwesenheit eines kami anzeigen.

Der zweite Punkt hat etwas mit der Frage von Bedeutungen zu tun, und hier muß ich John Stevens bei allem Respekt widersprechen. Die Frage, ob Worte ihre Bedeutung sozusagen in sich tragen, ist sehr alt. In Platos Dialog Cratylus, ist einer der Diskussionspunkte, ob ein Wort, „Wort“ zum Beispiel, seine Bedeutung hat, weil es Eigenschaften hat, die einzig dem Konzept folgen, für das sie stehen, oder schlicht wegen der Konvention. Nach einer aufwendigen Beweisführung wählt Plato schließlich die zweite Möglichkeit, und ihm folgten Aristoteles und seine Nachfolger. In anderen Worten, „logos“, „verbum“, „Wort“, „mot“, „tod“, „kotoba“, usw. haben keine besonderen Kräfte, vor allem, weil sie für eine bestimmte Reihe von Konzepten stehen, und so wird es einen nicht mit dem Göttlichen verbinden, wenn er die Worte von sich gibt, nur durch die Bedeutung, die die Worte haben.(22)

Das gleiche gilt für das Japanisch, aber es ist schwerer zu greifen wegen der besonderen Eigenarten der japanischen Sprache. Im Japanischen gibt es keine reinen Konsonanten außer dem „n“, und so ist jede Silbe entweder ein reiner Vokal oder ein Vokal, dem ein Konsonant vorausgeht. So verlangt die Aussprache praktisch jeder japanischen Silbe eine Ausatmung.

Daneben hat jede einzelne Silbe für gewöhnlich ein weites Bedeutungsfeld. Zum Beispiel kann der Klang SO auf 128 verschiedene Arten geschrieben werden, also mit 128 verschiedenen chinesischen Zeichen – und jedes dieser Zeichen hat eine andere Bedeutung.(23) So ist es nicht nur möglich, Japanische Silben zusammenzusetzen, die ausschließlich aus Vokalen bestehen (24), sondern auch Laute zu schreiben, deren einzelne Bestandteile eigene Bedeutungen haben. Aus diesen Gründen glaube ich nicht, daß es möglich ist, kotodama theoretisch anzuwenden ohne die dazugehörige Shinto-Theologie, und das in einer Sprache, die nicht das Japanische ist. Der Gründer glaubte an kotodama, weil er an die kami glaubte und auch, weil er Japaner war. John Stevens glaubt, der Gründer wurde mißverstanden, aber ich für mein Teil tendiere dazu, hier dem Gründer zu folgen.(25)

Natürlich kann man nicht leugnen, daß Worte eine bestimmte Kraft haben, wie jeder, der Opern hört, bestätigen kann, und ich habe lebhafte Erinnerungen an den mesmerisierenden Effekt an das Singen der Messe mit dem Gregorianischen Gesang. Eine Form des Gesanges begleitet normalerweise die Meditation, und ich will den ersten Teil dieses Essays damit beschließen, dieses Thema zu untersuchen.

Nao Deguchi verfaßte ihre fudesaki-Schriften als Ergebnis eines tranceartigen Zustands. Und von Onisaburo Deguchi sagt man, er habe die Erfahrungen, die er im Reikai Monogatari festhielt, als Ergebnis eines ähnlichen Zustandes gemacht. Kyotaro Deguchi erläutert in „The Great Onisaburo Deguchi“, daß es zwei Arten religiöser Shinto-Praktiken gebe:

“Die erste Art, kensai, besteht aus formalen Ritualen und Opfern, die vor einer Gottheit in einem ganz bestimmten Schrein ausgeführt werden: formale Zeremonien, ausgeführt vor den Göttern.”

Der Gründer verbrachte gegen Ende seines Lebens viel Zeit mit solchen Praktiken, und ein praktizierender Christ tut das gleiche in einer analogen Weise. Die zweite Art ist interessanter:

“Die andere Art, yusai, ist die Praxis, seine Seele auf den Geist der Gottheit abzustimmen, ohne feste Zeremonie, einen festen Ort oder Zeitpunkt. Die letztere beinhaltet den Prozess des chinkon (die Seele beruhigen) and kishin (eine Gesprächsweg mit der Gottheit schaffen). Dieses sind Techniken, die Menschen mit einer Gottheit in Kontakt bringen, und sie werden in viele Kategorien und Unterkategorien eingeteilt. Ich will nicht weiter ins Detail gehen und nur sagen, daß insgesamt 362 solcher Techniken existieren, die ausgeführt werden können sich selbst oder anderen zum Guten.”(26)

Das sollte Christen etwas beunruhigen, denn es weist nichts darauf hin, daß solche Übungen einen tatsächlich mit Gott in Verbindung bringen. Um diesen Punkt genauer zu erklären, muß ich einige kurze autobiographische Details einflechten.

Bevor ich mit dem Aikido begann, verbrachte ich mehrere Jahre in einem religiösen Orden, oder besser: in einem Kloster.(27) Die Ausbildung war sehr streng, und wir bekamen beigebracht, daß das „Bewußtsein der Anwesenheit Gottes“, um es einmal so zu nennen, eine Ganztagsbeschäftigung sei. (Das ist meinem Verständnis nach in vielen Punkten vergleichbar mit dem Dasein eines uchi deshi beim Gründer.)

Zum Beispiel mußten wir den größten Teil des Tages schweigend verbringen, und die nötige Konversation mußte auf Latein geführt werden. Natürlich gab es viele Medititationssitzungen, und in so einer Situation gerät man schnell über das schlichte gesprochene Gebet hinaus in einen Zustand, der „Kontemplation“ genannt werden kann. Natürlich mußten wir geistliche Texte lesen, und in der christlichen Tradition gibt es einen großen literarischen Reichtum.(28) Es gibt auch einen großen Reichtum an Wissen und Ratschlägen zu Meditationshaltungen und anderen asketischen und spirituellen Übungen, alle geschaffen, um jemanden zum „Bewußtsein der Anwesenheit Gottes“ zu bringen. Wir hatten natürlich alle schon von Zen gehört, denn viele christliche Mönche haben buddhistische Klöster besucht und von der Praxis des Zazen profitiert.(29) So wurden Fragen über Atmung und Haltung sehr wichtig, und die christlichen Mystiker geben zum Beispiel viele Anweisungen zur Rolle des Atmens bei der Meditation.

Ich fand auch sehr früh heraus, selbst wenn ich noch Novize war, daß es auch eine ständige Beschäftigung in der spirituellen Literatur gibt mit der unvermeidlichen Tatsache, daß eine solche Erfahrung des Göttlichen eine Gabe Gottes ist, und daß sie freiwillig gegeben oder vorenthalten werden kann, und damit mit der unvermeidlichen Konsequenz, daß Selbsttäuschung eine sehr viel wahrscheinlichere Möglichkeit ist als Erleuchtung.

Insbesondere wurden wir gelehrt, daß der sogenannte „Zustand erweiterten Bewußtseins“, herbeigeführt durch eine spezielle Atmung und Haltung niemals dasselbe sei wie die „Anwesenheit Gottes“. Meiner eigenen Erfahrung nach ist es sehr attraktiv, vorzugeben, in einer bestimmten Haltung zu sitzen oder auf eine bestimmte Art zu atmen, einen leichter in Kontakt mit dem Göttlichen bringt, als einfach auf einem Stuhl zu sitzen und normal zu atmen. Aber mein spiritueller Lehrer erinnerte mich sehr scharf daran, daß Dinge wie Haltung oder Atmung absolut nichts bedeuteten. Das waren asketische Übungen und weiter nichts. Tatsächlich kann ein Dauerthema in der christlich-mystischen Literatur zusammengefaßt werden unter der Bezeichnung „dunkle Nacht der Seele“, was äußerste geistige Verlassenheit bedeutet, aber es scheint, daß davon wenig Spuren in dem Material enthalten sind, das ich für diesen Essay durcharbeiten konnte. Natürlich ist das geistige Gebet genau das, was der Begriff aussagt: eine geistige Unterhaltung mit Gott, aber sie muß keine besondere oder „mystische“ Erfahrung sein.

Ich möchte selbstverständlich nicht leugnen, daß der Gründer tatsächlich die Erfahrung des Göttlichen hatte, doch Morihei Ueshiba war auch sehr deutlich ein Mann seiner Zeit und lebte zu einem der „Krisen-Zeitpunkte“ der japanischen Geschichte. Jedenfalls trennte er seine Aikido-Praxis nicht von seinen religiösen Erfahrungen, und ich glaube, daß ein ernsthaftes Studium der japanischen Kultur nötig ist, um beides zu verstehen. Andererseits kann ich woh nicht leugnen, daß es eine auffallende Kluft zwischen diesen religiösen Praktiken und dem heutigen Aikido, und diese Kluft ist öfter von „Westlern“, um es so auszudrücken, als von Japanern. Vielleicht sind die letzteren zu versunken in ihrer eigenen heutigen Kultur, um diese Kluft wahrzunehmen. Es sollte die ernsthaften „westlichen“ Aikidoka beschäftigen, ob und wie er oder sie die spritituellen Erfahrungen des Gründers „hervortretenlassen“ kann, trotz der Sprache und den Konzepten seiner/ ihrer Kultur. Es ist möglich, daß der Gründer seine spirituellen Beschäftigungen als seine eigene, persönliche Beschäftigung ansah und nicht von seinen Schülern verlangte, ihm darin zu folgen. Es wurde unterstellt, daß der Gründer das Aikido als eine göttliche Kunst ansah, während sein Sohn Kisshomaru Ueshiba das Aikido als eine universelle Kunst betrachtete. Ob es einen Unterschied gibt und wenn, woraus er besteht, soll das Thema des zweiten Teils dieses Essays sein.
Fußnoten
17. Carmen Blacker gibt einen Zusammenfassung von Onisaburo Deguchis visionäre Reise in The Catalpa Bow (S. 202-207). Ich glaube, daß Blackers Buch unentbehrlich ist für das Verständnis der Omoto-Religion und ihren Einfluß auf Morihei Ueshiba.

18. Carmen Blacker, The Catalpa Bow, Kap. 1.

19. Die Sätze und ausgiebigen Zitate stammen aus “The Religion Called Omoto”, in The Great Onisaburo Deguchi, von Kyotaro Deguchi, Tokyo, Aiki News, 1998, S. x. Es ist wichtig, anzumerken, daß die Kommentare von William Gilkey sind, dem ehemaligen Herausgeber von Omoto International, und nicht von Kyotaru Deguchi selbst.

20. Die Details werden genannt in Yoshiro Tamura, Japanese Buddhism: A Cultural History, Tokyo, Kosei Publishing Co., 2000, S. 197-200. Siehe auch “Shinto”, Kapitel 9 in On Understanding Japanese Religion, von Joseph Kitagawa, Princeton University Press, 1987.

21. Johannes-Evangelium, Kap. 1, Verse 1, 2, 14 – im engl. Originaltext: 1611 King James version, in der dt. Übersetzung nach der Einheitsübersetzung. (Der kursiven Teile dieser Fußnote sind Ergänzungen der Übersetzerin, A.d.Ü.)

22. Der Glaube, Worte hätten magische Kräfte, ist sehr alt und bildet die Grundlage für religiöse Rituale. Die ältesten Orakel sprachen immer in Rätseln, aber es brauchte eine Kultur wie die der Griechen, mit ihrer Betonung der Dialektik, um auf den Unterschied zwischen langue und parole zu stoßen: den zwischen Äußerungen und den Konventionen, diese auszudrücken.

23. Die 128 unterschiedlichen Arten sind aufgelistet auf S. different ways are listed on 1349 des New Nelson Japanese-English Character Dictionary, herausgegeben von Charles Tuttle im Jahr 1997.

24. Ein Beispiel ist „Ooo,oooo,oo ooo“, was bedeutet „Der mutige König verbirgt sein hinteres Ende, wenn er hinausgeht“ und für diejenigen, die glauben, ich erfinde so etwas, stehen dieses und weitere Beispiele auf S. 51 in The Japanese Brain, by Tadanobu Tsunoda, Tokyo, Taishukan, 1985.

25. John Stevens nennt seine Argumente auf S. 15-20 in The Secrets of Aikido.

26. Die beiden Zitate stammen aus The Great Onisaburo Deguchi, S. 20.

27. Der religiöse Orden war die Societas Jesu, oder Jesuiten.

28. Die Texte, die mir am vertrautesten sind, sind Cloud of Unknowing, geschrieben von einem anonymen mittelalterlichen englischen Mystiker, die Spiritual Exercises of Ignatius of Loyola, und die Schriften von Teresa von Avila und des hl. Johannes vom Kreuz.

29. Daß ein solch fruchtbarer Austausch möglich ist, wird deutlich in einem Buch mit dem Titel Mystics and Zen Masters, von dem Trappisten-Mönch Thomas Merton (erstmals veröffentlicht im Jahr 1961 bei Farrar Strauss and Giroux, New York). In zwei Kapiteln “Zen Buddhist Monasticism” und “The Zen Koan” (S. 215-254), gibt Merton einen kurzen und eleganten Bericht über die Hauptunterschiede zwischen Zen- und christlichem Mönchtum.
von Peter Goldsbury
Übersetzt von Christiane Schiemann
Aus: Aikidojournal.com

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