Den Status quo herausfordern

Die Schwerpunkte und Ziele der Aiki News haben sich in den zwanzig Jahren seit ihrer Entstehung immer wieder gewandelt. Zu Beginn untersuchten wir hauptsächlich das Leben des Begründers und die Evolution seiner Techniken. Unsere Untersuchungen führten uns in die Tiefen des Daito-Ryu Aikijujutsu, die technische Quelle des Aikido und deren wechselseitige Zusammenhänge. Unsere Bemühungen führten zu einem tieferen Verständnis der Beziehung zwischen Morihei Ueshiba und Sokaku Takeda. Auf gleiche Weise haben wir uns seit neuem vertiefend mit der Omoto-Religion und dessen charismatischen Führer Onisaburo Deguchi befasst. Der Einfluss der Omoto-Sekte auf die Gedanken von Morihei Ueshiba ist bisher nicht zu unserer Zufriedenheit geklärt. Wir wollen unser Wissen auf diesem Gebiet erweitern und unsere Leser daran Teil haben lassen.
Während wir diese unterschiedlichen Stadien durchliefen, hat sich auf natürlich Weise auch unser Verständnis der Natur des Aikido vertieft. Wir mussten feststellen, dass viele Darstellungen des Menschen Ueshiba und seiner Kunst Aikido wie sie in Büchern und Artikeln beschrieben wurden und werden, oberflächlich, irreführend und lückenhaft sind. Oftmals befanden wir uns in der misslichen Lage, dass unsere Veröffentlichungen in direktem Gegensatz zur vorherrschenden Meinung stehen. Dies hat uns sowohl Lob, wie auch Verachtung eingebracht, doch ich vermute, dass dies das Los allen historischen Journalismus ist.

Ich möchte einige unserer “kontroversen” Feststellungen über den Begründer und seine Kunst zusammenfassen: Morihei Ueshiba war ein exzentrischer Nonkonformist, der mit der Entwicklung des Aikido einen höchst persönlichen Weg gegangen ist. In der ersten Hälfte seines Lebens boten sich ihm aufgrund des erheblichen Vermögens seines ihn liebenden Vaters Yoroku vielerlei Möglichkeiten. Die Erschaffung des Aikido durch Ueshiba wurde in der Daito-Ryu-Schule als Akt der Rebellion und des Mangel an Respekts gegenüber Sokaku Takeda angesehen. Ueshiba selbst war Onisaburo Deguchi loyal ergeben; seine ethischen Ansicht über Budo sind von Deguchis Lehren im Omoto abgeleitet. O-Sensei hat seine visionären Ansichten über Budo als Werkzeug zur Konfliktlösung größtenteils durch Metaphern und Symbole der Omoto-Doktrin ausgedrückt. Diese Ansicht ist im Zuge der Popularisierung des Aikido vereinfacht und verändert worden, indem der religiöse Kontext entfernt wurde.

Die physischen und seelischen Zerstörungen, die Japan im Zweiten Weltkrieg erlitt, haben Ueshiba in seinen religiösen und ethischen Ansichten bestärkt. Aikido in seiner modernen Form entwickelte der Gründer in der Periode von 1942 bis in die Mitte der Fünfziger Jahre, während er sich in Iwama intensiven Studien widmete. Ueshibas symbolischer und spiritueller Einfluss auf das Aikido nach dem Krieg überflügelte seinen technischen Beitrag. Der technische Seite wurde stärker von jenen Lehrern bestimmt, die für die Verbreitung des Aikido verantwortlich waren: Gozo Shioda, Koichi Tohei, Kisshomaru Ueshiba und in gewissem aber geringerem Maße auch die fortgeschrittenen Lehrer der zweiten Generation.

Das heute übliche Aikido unterscheidet sich erheblich von dem, welches der Gründer während seiner Jahre in Iwama entwickelte: Atemi (Schläge zu vitalen Punkten) sind heute kaum noch vorhanden oder vernachlässigt. Die Anzahl der geübten Techniken wurde verringert. Der Fokus auf Irimi (Eintreten) und des Initiierens einer Technik durch Tori [Ausführender einer Technik] wurde aufgegeben. Der Unterschied zwischen Omote and Ura wird verwischt.. Übungen mit Aiki-Ken, Jo und anderen Waffen begegnet man nur selten, wenn überhaupt. Obwohl Einige Aikido noch immer als Budo ansehen, hat es doch wenig seiner historischen Effektivität im Kampf erhalten, da es nur auf sanfte und nachlässige Art und Weise trainiert wird, so dass man es heute eher als Gesundheitssystem oder Gymnastik bezeichnen könnte.

Ich nehme an, dass ich durch diese gewagten Aussagen “einen Stein in die ruhigen Gewässer des Aikido-Teiches werfe”, aber langjährige Leser werden erkennen, dass sie logisch aus den Untersuchungen folgen, welche Aiki News in den letzten Jahren betrieben hat. In diesem Zusammenhang hat Aiki News einen Kumpanen in Herrn Yoshinori Kono gefunden. Herr Kono hat in japanischen Kampfkunst-Kreisen in den letzten Jahren durch seine Theorien und Bücher beträchtliche Bekanntheit erlangt. Herr Kono, ein ehemaliger Aikido-Schüler und eifriger Kampfkunsterforscher, hat in der letzten Zeit oft zu den Aiki News beigetragen, und wir denken, dass er auf einzigartige Weise qualifiziert ist, seine Beobachtungen über technische Dinge und die Dynamik von Bewegungen aus einem neuen Blickwinkel mitzuteilen. Er vereinigt die seltenen Gaben des hervorragenden Technikers mit der tiefschürfender Gedanken. Sein Vorbild im unnachgiebigen Experimentieren und die Abwechslung seines Trainings sollten uns allen Inspiration sein.

Aiki News hat kürzlich das erste Trainings-Handbuch seiner Art herausgebracht, in welchem Herr Kono seine Theorie des igeta jutsuri von den Anfängen an beschreibt. Hauptsächlich auf unseren Empfehlung hin hat Herr Kono seine Entdeckungen präsentiert – wie sie auf Aikido-artige Techniken angewendet werden können. Seine Begrifflichkeiten werden Aikido-Praktizierenden bekannt vorkommen. Dieses Werk wird in meinen Augen ein hervorragender Beitrag zur technischen und theoretischen Aikido-Literatur sein, die in den letzten Jahren dazu neigte sich zu wiederholen und voneinander abzuleiten.

In einigen der Konzepte von Herrn Kono kritisiert er die Art und Weise in der Aikido heute ausgeübt wird und ich stimme in weiten Teilen mit ihm überein. Ich weiß mit Sicherheit, dass Herr Kono seine technischen Entdeckungen nur mit zwiespältigen Gefühlen offenbart, in denen er den Status quo des Aikido kritisiert. Ich befand mich selbst schon in dieser Lage und musste mich mit diesem Dilemma schon mehrfach herumschlagen. Dieser Standpunkt ruft aus manchen Ecken Widerspruch hervor. Der größte Teil der Post hat sich aber positiv zu Herrn Konos Beobachtungen geäußert, es gab nur wenige negative Reaktionen. Um unserer Arbeitsweise der offenen Diskussion treu zu bleiben, haben wir einige der Entgegnungen veröffentlicht.

Auch ich habe etwas abbekommen. Vor einigen Jahren erhielt ich einen langen Brief eines wohlbekannten fortgeschrittenen [Aikido]-Lehrers, der mich dafür tadelte, zu tief in die Materie des Daito-Ryu einzusteigen und Kommentare zu veröffentlichen, die als Kritik am Gründer ausgelegt werden können. Daraufhin beschuldigte er mich der Illoyalität gegenüber der Sache des Aikido. Auch wenn es schmerzt derartiges zu lesen, so war es doch nie eine Frage, ob wir diesen “wenig schmeichelhaften” Brief veröffentlichen würden. Um die Demütigung noch zu erhöhen, mussten wir diese beißenden Worte für die Veröffentlichung übersetzen. Einige unserer Leser standen uns mit ihrerseits “wenig schmeichelhaften” Worten in Richtung des verärgerten Shihan bei. Man braucht ein dickes Fell, um auf diesem Feld zu überleben. Wenn ich daran denke, dass ich mich eigentlich nur in einer Bibliothek verkriechen wollte und ein paar Monographien schreiben, die höchstens fünfzig Leute überhaupt lesen würden … !

Nach so vielen Jahren ziehe ich den Schluss, dass das alte Sprichwort gilt: “Wer austeilt, muss auch einstecken können.” Derartige kritische Kommentare, ob nun von Gegnern, ob wohlmeinend oder sonstiger Art, können wie ein Schwertstoß sein. Man sollte ihn erwarten, ihm ausweichen und ihm begegnen ohne zu verletzen und letztlich dazu verwenden, seinen eigenen Geist zu schulen!
von Stanley Pranin
Aiki News #98 (1994)
Übersetzt von Stefan Schröder

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