Der Charakter zählt!

Der beschämende Prozess um O. J. Simpson und die kürzliche Urteilsverkündung haben mich wieder mal dazu veranlasst, über den menschlichen Charakter nachzudenken. Die meisten Zuschauer stimmen darin überein, dass der Dreh- und Angelpunkt der Freilassung Simpsons die Enthüllung des skandalösen Meineides eines L.A. Polizei-Detectives war, der als Kronzeuge auftrat. Teil dieses bizarren Ereignisses, welches die Medien für mehr als anderthalb Jahre in eine Art Raserei versetzt hat, ist nun die Freilassung des Mannes, den viele für schuldig halten, einen Doppelmord begangen zu haben und der nun freigelassen wurde, weil ein anderer Mann in flagranti der Lüge überführt werden konnte. Zugegebenermaßen ist das ein extremes Beispiel für die weitreichenden Konsequenzen unmoralischen Verhaltens – in diesem Fall eine dreiste Lüge – das vor den Augen der Öffentlichkeit vorgetragen wurde.

Warum kümmert mich das im Zusammenhang mit dem Aikido? Die Antwort liegt im Wesen des Aikido als Kampfkunst. Aikido bezeichnet sich selbst als Kampfkunst mit einem spirituellen Kern. Das bedeutet, dass Aikido seinen Anhängern einen Weg verspricht, der über die Fähigkeit zur Selbstverteidigung hinausgeht, der sie durch das “Aufpolieren” ihres Geistes zu besseren Menschen macht. Doshu Kisshomaru Ueshiba geht sogar so weit zu behaupten, dass Aikido in der modernen Gesellschaft in dieser Fähigkeit zur Besserung des Menschen seine Hauptaufgabe findet und nicht darin, eine Kampfkunst zu sein. Wenn man diese Ansicht annimmt, wie ich dies mit den Jahren mehr und mehr tat, dann wird der Charakter, die Integrität und das Verhalten von Individuen eher ein Maßstab für deren Können in der Kunst, als ihr Grad technischer Fähigkeit.

Durch dieses hohe Ziel zieht Aikido idealistische Schüler an, die in ihrem Lehrer einen fähigen Kampfkünstler und einen spirituellen Mentor suchen, beides in einem. All zu oft jedoch werden diese Anfänger vom Aikido bis zu dem Punkt verzaubert, dass ihre Anhänglichkeit an ihren Lehrer an völlige Ergebenheit grenzt. Sie werden “wahre Gläubige” im wahrsten Sinne des Wortes, für die der Lehrer unfehlbar wird. Selbst wenn ein fehlerhaftes Verhalten nicht mehr geleugnet werden kann, suchen diese ergebenen Schüler Ausflüchte und erklären es mit einem versteckten und tieferen Plan. Natürlich ist dieser verhüllte Plan nur dem Lehrer bekannt, der als das überlegene Wesen angesehen wird.

Meine beruflichen Verpflichtungen, die zum Teil von dem Wunsch nach breiter Berichterstattung über die wichtigen Zweige des Aikido getrieben werden, haben mich dazu gebracht, mit vielen bekannten Leuten andauernde Bündnisse einzugehen. Aber ich bin auch der erste, der zugibt, dass ich mich eher zu den Lehrern hingezogen fühle, die für mich das Ideal das Aikido repräsentieren, als zu denen, die sich technischer Finesse oder besonderes langjährigen Trainings rühmen.

Ich möchte dies an einem Beispiel illustrieren. Vor etwa zehn Jahren war ich einmal in eine extrem unangenehme Situation geraten. Der Vorsitzende einer großen europäischen Aikido-Organisation hatte Kontakt zu mir aufgenommen mit dem Wunsch, die Kopie eines historischen Dokuments aus einem japanischen Buch zu finden. Zum Unglück für alle Beteiligten habe ich im Laufe meiner Suche festgestellt, dass das fragliche Dokument verändert worden war. Ich hatte niemals die Absicht, die für diesen dubiosen Akt verantwortliche Person mit meinen Ermittlungen zu konfrontieren – dies zu tun wäre Selbstmord gewesen -, also ignorierte ich die Bitte aus Europa. Einen Monat später bekam ich einen zweiten Brief des gleichen Gentleman. Er war zu Recht ziemlich verstört über das Ausbleiben einer Antwort auf seinen ersten Brief und erneuerte seine Bitte.

Da ich die Situation nicht mehr ignorieren konnte, kam mir die Idee den “Assistenten” des Autoren des Buches, welches das veränderte Schriftstück enthielt, um Rat zu fragen. Mit einem japanischen Kollegen brach ich mit Kopien sowohl des originalen, wie auch des gefälschten Dokuments auf, um meine Behauptungen belegen zu können.

Dieser Assistent, ein mittlerweile verstorbener älterer Herr, war ein Meister der Kunst der Gelassenheit und gab uns eine großartige Vorstellung, die ich nie vergessen werde. Als ich ihm die Dokumente Seite an Seite vorlegte, lächelte er schief und blieb zunächst für eine unbestimmbare Weile stumm. Seine unglaubliche Antwort war: “Nun, sehen Sie, beide Dokumente sind echt!” Absolut sprachlos sah ich ihm direkt in die Augen. Sie schienen zu glänzen, mit einem Funken an Übermut. Ich wandte mich meinem Begleiter zu, der genau wie ich erstaunt war. Wir befanden uns in der lächerlichen Situation, dass wir um die Absurdität seiner Antwort wussten, aber es gleichzeitig nicht wagen würden, seine Meinung anzuzweifeln. Die ganze Szene war ausgesprochen lustig und nur mein Sinn für japanischen Anstand hinderte mich daran, in Gelächter auszubrechen.

Was ich aus dieser Episode gelernt habe war, dass zwei unterschiedliche Wertesysteme beteiligt waren. Für mich ist das Verändern eines historischen Dokuments mit dem Ziel Menschen zu täuschen ein tadelnswerter Akt. Für manche Japaner hingegen ist der gleiche Akt leicht mit den besonderen Umständen, denen sich der Täter ausgesetzt sah, entschuldbar; der durch die Tat ja auch niemandem geschadet hat.

Eine letzte Episode, um zu zeigen, welche Kreise eine moralisch fragwürdige Tat ziehen kann. Sie besteht in der Fälschung der Abstammung einer Kampfkunst, einer überraschend häufigen Praxis in Japan und anderswo. Vor einigen Jahren veröffentlichte eine führende japanische Kampfkunst-Zeitschrift einen Artikel über eine Schule, die behauptete “authentisches” Daito-Ryu Aikijujutsu zu unterrichten. Dieser Artikel enthielt eine revisionistische Geschichte des Daito-Ryu, begleitet von einem Stammbaum, in dem die via Sokaku Takeda überlieferte Kunst nur einen Nebenzweig einnahm. Natürlich behauptete der Lehrer dieser Schule auch noch, der legitime Führer des Daito-Ryu zu sein, obwohl Sokakus Sohn und Nachfolger Tokimune noch lebte.

Ich beantwortete diesen Unsinn mit einem Artikel, in dem ich entlarvte, dass dieser Lehrer die Herkunft dieser Schule in den letzten zwanzig Jahren mindestens dreimal verändert hat. Zum Glück für die legitimen Daito-Ryu Schulen, die ihren Ursprung auf Sokaku Takeda zurückführen können, hat sich dieser Fälscher seitdem zurückgehalten und klärende Artikel, waren nicht mehr nötig. Wäre ich noch jünger, würden mich solche Charakterfehler gerechtfertigterweise empören. Wie können Leute, die sich selbst als Vorbilder sehen wollen, einem solchen Verhalten anheimfallen, das sogar ein Kind als moralisch verfehlt erkennt? Jedoch ist das Leben scheinbar nicht so einfach, andere Erwägungen führen Menschen oft dahin, moralische Fragen nur zweitrangig zu beachten. Wenn ich heute von jungen Leuten gefragt werde, wie sie ihren Aikido-Lehrer auswählen sollen, rate ich ihnen, ihre Erwartungen nicht zu hoch zu stecken. Aikido-Senseis sind normale Menschen mit menschlichen Fehlern. Erkenne, auf welchen Gebieten diese Person dir etwas beibringen kann und sei sehr vorsichtig bei den Versuchen, jede Facette der Verhaltens des Lehrers nachzuahmen, ein “Klon” zu werden. Sei aufmerksam und skeptisch und wisse, dass die wichtigsten Lektionen im Leben durch den Blick nach innen gelernt werden können und auf den angesammelte Erfahrungen eines ganzen Lebens gründen.
von Stanley Pranin
Aikido Journal #106 (1996)
Übersetzt von Stefan Schröder

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