Gaijin-Komplex

Vor einigen Tagen erreichte mich ein anonymer Brief, der sich kritisch mit der Graduierungspraxis einiger im Ausland unterrichtender japanischer Shihan auseinander setzte. Der Autor beklagte, dass die betreffenden Shihan einige ihrer Lieblingsschüler unter den Ausländern hatten, die schnell graduiert werden, während andere wohlverdiente fortgeschrittene Schüler übergangen würden. Die übergangenen ausländischen Schüler seien auf die Anerkennung angewiesen, die aus der Graduierung erwachse, da ihre Mitbewerber anderer Kampfkünste höhere Ränge besäßen als sie selbst und diese nutzten, um Schüler zu werben. Zunächst einmal möchte ich den Anhängern dieses Standpunktes raten, sich nicht so sehr wegen ihrer Graduierung zu sorgen, als sei dies eine Voraussetzung für ihren Erfolg als Kampfkunstlehrer. Angehende Schüler sind schwerer von einem fähigen und redegewandten Lehrer beeindruckt, der einer ordentlichen und professionell geführten Schule vorsteht, als von jemandem, der nur mit einem hohen Rang aufwarten kann, der sich vielleicht zudem noch “Orient-Experte” nennt. Aber hauptsächlich geht es mir hier um eine Mentalität gegenüber asiatischen Kampfkunstlehrern, der man häufig begegnet. In Ermangelung eines besseren Begriffs will ich dies “Gaijin” — das japanische Wort für Fremder oder Ausländer — Komplex nennen. Dieser offenbart sich deutlich im Geiste des Briefschreibers, der trotz seiner Kritik an den japanischen Lehrern, ihre Anerkennung sucht. Diese Geisteshaltung hält an der Idee fest, die Japaner und Asiaten im Allgemeinen hätten eine Art angeborener Neigung zu den Kampfkünsten, welche es ihnen ermöglicht, sich gegenüber Westlern überlegene Fähigkeit anzueignen. Verknüpft mit dieser Vorstellung ist die Annahme, die orientalischen Lehrer hätten ein tiefes Verständnis der esoterischen Aspekte ihrer Kunst, die ausländische Übende nur mit großer Mühe erreichen. Im Aikido sind natürlich japanische Lehrer Anfang der 50er Jahre bis in die 70er die treibende Kraft hinter der Verbreitung der Kunst im Westen gewesen.

Selbstverständlich sind diese japanischen Shihan zusätzlich zu ihrer technischen Überlegenheit auch besonders qualifiziert über die spirituelle Seite des Aikido zu sprechen, hatten sie doch vom Gründer Morihei Ueshiba selbst gelernt. Diejenigen von uns, die in den 60er Jahren trainierten, nahmen vermutlich automatisch an, dass die wenigen japanischen Shihan, denen wir begegneten – selbst wenn sie die gleiche Graduierung besaßen – höher qualifiziert waren als wir. Ich hege nun den Verdacht, dass sich diese Einstellung in unserem Bewusstsein so tief eingegraben hat, dass wir sie unbewusst an unsere Schüler weitergegeben haben. Doch heute ist die Situation eine andere. Schon in einem vorherigen Vorwort habe ich darauf hingewiesen, dass Japan hinsichtlich der Anzahl an Aikido-Übenden nur noch den dritten Platz weltweit einnimmt, hauptsächlich aufgrund der nur kleinen Anzahl an professionellen Aikido-Dojos in diesem Land. Es überrascht nicht, dass es mittlerweile im Ausland viel mehr fähige Lehrer als in Japan gibt, da diese viele Stunden auf der Matte verbringen und ihren Lebensunterhalt mit Unterricht erstreiten. Ihre japanischen Kollegen hingegen sind normalerweise Angestellte, die Aikido als Hobby nur ein- oder zweimal in der Woche betreiben. Ihr Einsatz ist, wenn man von den höchsten Shihan absieht, die seit Jahrzehnten trainieren, weitaus geringer. Auch wenn ich zugegebenermaßen keine Zahlen verglichen habe, so bin ich doch zum Beispiel überzeugt, dass die Anzahl an englischen Aikido-Büchern diejenige an japanischen Aikido-Büchern bei weitem übersteigt. In unserem Verlagsgeschäft zeigen sich weitere Hinweise einer Beschleunigung des Aikido-Wachstums außerhalb Japans. Die Anzahl der Leser in westlichen Ländern erreicht die dreifache Zahl derer in Japan. Dieser Trend zeigt keine Abschwächung und obwohl Japan immer das spirituelle Zentrum des Aikido bleiben wird, dringt Aikido in den westlichen Ländern weitaus energischer in den kulturellen Mainstream. Um auf den Anfang erwähnten Brief zurückzukommen, gebe ich denjenigen, die mit ihren japanischen Shihan wirklich unzufrieden sind, den Rat, sich von diesen loszusagen und sich von der sie vernachlässigenden Organisation für unabhängig zu erklären. Die Tage in denen ein japanischer Lehrer Voraussetzung für hochwertigen Aikido-Unterricht war sind nun lange vorüber. Es gibt viele Nicht-Japaner, die hohes Können erlangt haben. In vielerlei Fällen sind diese ausländischen Lehrer besser ausgerüstet, um die Nachricht von Aikido zu überbringen. Nicht nur weil sie in ihrer Muttersprache unterrichten, sondern aufgrund ihres professionellen und gelehrten Hintergrunds. Auch auf philosophischer Ebene haben viele ausländische Aikido-Anhänger die Nachricht des Begründers begriffen, die Aikido als Vehikel zur friedfertigen Konfliktlösung versteht. O-Senseis Ansicht bildet einen elementaren Bestandteil ihres Unterrichts und die Betonung dieses einzigartigen Punktes unterscheidet Aikido von anderen Kampfkünsten. Tatsächlich bemerke ich unter Ausländern ein viel größeres Interesse an Morihei Ueshibas ethischer Doktrin als unter Japanern. Man muss sich vor Augen halten, dass trotz des japanischen Ursprungs des Aikido die Ansichten des Begründers in einer farbigen, metaphorischen Sprache abgefasst waren, die mit religiöser Terminologie gespickt war, so dass sie für moderne Japaner völlig unverständlich geworden ist. Viele der japanischen Shihan, die ich über die Jahre interviewt habe, gaben unumwoben zu, nichts von seinen “Lektionen” verstanden zu haben und immer nur darauf gewartet zu haben, dass er zu einem Ende kam, um weitertrainieren zu können. Ähnliches hörte ich, wenn ich nach den religiösen Überzeugungen des Gründers fragte. Viele der Interviewten beantworteten Fragen zu esoterischen Themen nur vage oder gaben offen zu, dass sie der Rede des Gründers nicht folgen konnten. Das Fazit daraus ist die Feststellung, dass Ausländer bei dem Versuch die “Essenz” des Aikido zu verstehen keinen besonderen Nachteil gegenüber Japanern haben, selbst wenn sie die Sprache nicht verstehen. Die Geheimnisse des Aikido offenbaren sich dem ernsthaft Übenden durch die Übungen selbst. Ich glaube, Aikido handelt von der Entwicklung einer zentrierten Achtsamkeit in einem selbst und davon, diese kraftvoll in seine unmittelbare Umgebung zu übertragen. Erreichen kann dies jeder Übende jeglicher Nationalität, unabhängig von der Mitgliedschaft in einer Organisation und unabhängig von einem japanischen Shihan. Stanley Pranin ist Chefredakteur und Herausgeber der Aiki News, welche er 1974 gründete. Er möchte auf diesem Wege englischsprachigen Aikido-Übenden sorgfältig recherchierte Informationen zur Verfügung stellen. Er begann 1962 mit dem Aikido in Lomita, Kalifornien und hat den 5. Dan erlangt. Seit 1977 lebt, trainiert und arbeitet Pranin in Japan. Er ist verantwortlich für die Veröffentlichung einer separaten japanischen Ausgabe der Aiki News, sowie verschiedener Bücher zum Thema Aikido. Er ist der Autor der Aiki News Encyclopedia of Aikido, Redakteur von Aikido Masters und Co-Autor von The Aiki News Dojo Finder.
von Stanley Pranin
Übersetzt von Stefan Schröder
Aiki News #99 (1994)

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