Interview mit Moriteru Ueshiba 1.Teil

Editor Stanley Pranin: Sie sind der Erbe der Aikido-Tradition. Wann begann sich dies auf Ihr Aikido-Training auszuwirken?
Doshu: Erst nachdem ich als Student an die Universität ging, verfolgte ich das Training mit Nachdruck. Ich ging noch zur Schule, deswegen hatte ich nur wenige Stunden am Tag zum Trainieren, entweder morgens oder abends, je nach meinem Stundenplan. Im Mittel habe ich wohl zwei Stunden täglich trainiert. Während der Frühjahrs- oder anderer Ferien auch mal die eine oder andere Stunde mehr. Auch nach meinem Abschluss, bis ich ungefähr 30 war, blieb es bei diesem Umfang. Etwa 1979 wurde mein Vater für eine Weile krank und von da an nahmen meine Lehrverpflichtungen nach und nach zu.
Würden Sie sagen, dass Ihr Vater Kisshomaru den größten Einfluss auf Sie hatte?
Er hat jeden Morgen und am Freitagabend unterrichtet, dort bin ich immer gewesen. Ich habe auch den Unterricht anderer Lehrer besucht, aber ich habe mein ganzes Leben mit meinem Vater unter einem Dach gelebt und sein Training hat mich zweifellos am stärksten beeinflusst.
Gab es etwas, dass Ihr Vater im Hinblick auf die Geschichte des Aikido besonders betont hat?
Er hat mit mir nicht wirklich viel über solche Dinge gesprochen. Ich hörte das meiste von ihm zu diesem Thema, als ich begann regelmäßiger zu trainieren und ihn zu Seminaren, Unterricht und Demonstrationen begleitet habe. Er hat sich nie zu Hause neben mich gesetzt und gesagt: “Moriteru, es ist so …” oder “Moriteru, ich möchte das Du dieses und jenes weißt …”
Ich habe auf jeden Fall seit meiner Geburt mit meinem Großvater, dem Gründer des Aikido und meinem Vater, dem ehemaligen Doshu, zusammengelebt. Deswegen haben sie mich sicherlich beeinflusst, auch wenn sie nicht ausdrücklich mit mir über diese Dinge gesprochen haben. Ich bin in eine Aikido-Umgebung hineingeboren und dort aufgewachsen, mit allen seinen technischen und anderen Aspekten.
Auf welche Art und Weise hat Sie Ihr Vater unterrichtet?
Ich habe trainiert wie alle anderen auch, er hatte nie genügend Zeit, um mich beiseite zu nehmen, um mir irgendwelches Sondertraining zukommen zu lassen. Er hat mir immer wieder bestimmte Ratschläge gegeben, zum Beispiel meine Techniken sauber und korrekt auszuführen, die Hüften tief zu halten und großräumige Bewegungen auszuführen. Aber ich habe nie detaillierte Anleitung bekommen, wie Sankyo, Nikyo oder andere Techniken auszuführen seien. Ich habe diese Techniken von klein auf beobachtet und kannte und verstand sie also schon. Das meiste was ich gelehrt bekam bezog sich auf die übergeordneten Punkte, wie schon erwähnt.
Auch wenn mein Vater auch mein Lehrer war, so glaube ich doch, dass wir ein ganz normales Vater-Sohn-Verhältnis hatten, sobald wir das Dojo verließen (lacht).
Hatten Sie — wie viele Teenager anderswo — auch eine “rebellische Phase” in der einen oder anderen Weise?
Nun, nein, ich habe mich nie in dieser Weise gegen meinen Vater gewendet, aber in der Grundschule war ich wohl ziemlich schrecklich (lacht). Ich bin in allerlei Unfug verwickelt gewesen und meine Mutter musste oft deswegen in die Schule kommen. Ich habe wohl alle rebellischen Bedürfnisse irgendwie außerhalb befriedigt, statt sie gegen meinen Vater zu richten.
Wie sehen Sie die Rolle Ihres Vaters für die Aikido-Geschichte?
Aikido existiert, weil es von jemandem geschaffen wurde. Das Aikido in seiner heutigen Ausprägung wurde in großen Teilen durch die andauernden Anstrengungen meines Vaters geformt, basierend auf seinem Verständnis der Absichten des Gründers. Ich glaube, diese Anstrengungen haben das Aikido dahin gebracht, wo wir heute stehen und sind der Grund für das hohe Ansehen und die Popularität des Aikido in der ganzen Welt.
Wenn man noch weiter in die Vergangenheit schaut und den Entstehungsprozess des Aikido betrachtet, so fallen einem die ausgiebigen Reisen ein, die der Gründer unternahm und die verschiedenen Trainingsarten denen er sich unterzog. Die Möglichkeit dazu verdankte er zu einem großen Teil der Unterstützung meines Urgroßvaters Yoroku, der ihn unterstützte und ihn so seinen eigenen Weg finden ließ. Meine Großmutter unterstützte ihn ebenfalls auf ihre Weise, wie es ihr als Ehefrau möglich war. Das Aikido, das wir heute haben, ist also das Ergebnis der Anstrengungen vieler verschiedener Menschen.
Gleichzeitig lagen mehrere glückliche Umstände vor. Das Hombu-Dojo ist während des Krieges nicht zerstört worden. Auch die Anstrengungen der Vielen, die vor und nach dem Krieg daran gearbeitet haben, die Anerkennung des Aikido-Hombu-Dojo als Non-Profit-Organisation (zaidan hojin) zu erreichen möchte ich hier würdigen. Diese Anerkennung erfolgte erstmalig 1940 als Zaidan Hojin Kobukai, und basierend darauf erfolgte dann 1947 die Anerkennung durch das Bildungsministerium unter dem Namen Zaidan Hojin Aikikai (Aikikai Stiftung).
Aikido existiert heute also aufgrund des Zusammentreffens aller dieser Faktoren: Der Erschaffung durch den Gründer, den Anstrengungen meines Vaters als Doshu, dem Überleben des Dojos während des Krieges, der Etablierung des Aikikai als gemeinnütziger Organisation, ebenso wie die Unterstützung, die der Gründer von seinen Eltern, seiner Ehefrau und vielen anderen erhielt.
Ich habe Geschichten darüber gehört, wie Ihr Vater Kisshomaru während des Krieges verzweifelt versuchte das Dojo vor den Flammen zu retten, die in Tokyo während des Krieges viele Opfer forderten.
Ich glaube nur etwa fünf Gebäude in der Gegend blieben stehen. Selbst das Nachbargebäude zur Rechten brannte. Da wurde eine Eimerkette gebildet und in einer gemeinsamen Kraftanstrengung konnten die Flammen vom Gebäude ferngehalten werden.
Wäre das Dojo zerstört worden, hätte alles von Grund auf neu begonnen werden müssen. Die Rettung des Dojos war also ein wichtiger Punkt für die Entwicklung des Aikido.
Ja, ich denke schon. Als ich klein war, war im Hombu-Dojo noch nicht so viel los. Für eine Zeit war mein Vater auch in Iwama. Dort heiratete er und ab etwa 1949 arbeitete er für eine Firma namens Osaka Shoji. Er hatte keine andere Wahl. Selbst wenn man ein Dojo hat, kann man nicht davon leben, wenn keiner zum Trainieren kommt, wie es nach dem Krieg der Fall war. Also hat er tagsüber als normaler Angestellter gearbeitet und nur morgens und am Abend unterrichtet. Als sich die Dinge einpendelten, brachten ihn einige Leute dazu die Firma zu verlassen und Aikido Vollzeit zu unterrichten. Es wurde für das Richtige gehalten, dass der Sohn des Gründers die Führung übernimmt, insbesondere da dies die Mitgliederzahl steigen lassen würde.
Vor kurzem fand (im Nippon Budokan) die 37. jährliche Aikido-Demonstration statt, aber damals fand sie an Orten wie dem Dach des Takashimaya-Kaufhauses statt. Ich erinnere mich mit meiner Großmutter zum Zuschauen dort gewesen zu sein.
Mein Vater hat viele der Universitätsstudenten im Hombu-Dojo enthusiastisch ermutigt an ihren Heimatschulen Aikido-Clubs zu gründen und so eröffneten nach und nach an vielen Orten des Landes Aikido-Dojos, wenn die Studenten graduierten und dann in Ihre Heimatorte zurück kehrten.
Aikido durch die Förderung der Gründung von Aikido-Clubs an Universitäten zu verbreiten war offenbar ein wichtiges Element. Haben Sie selbst jemals in einem Universitäts-Dojo trainiert?
Nein, ich war mit dem Training im Hombu-Dojo ausgelastet, so dass ich kein weiteres Interesse an Universitäts-Clubs hatte. Das hatte natürlich auch damit zu tun, dass ich sehr damit beschäftigt war mich mit anderen Dingen zu vergnügen (lacht).
Ich hörte, Sie waren statt dessen ein Mitglied des Kalligraphie-Clubs Ihrer Universität.
(Lacht) Ah, das war ich… Ich wollte meine Handschrift verbessern, aber ich muss zugeben, dass ich dies nicht sehr ernsthaft betrieben habe. Ich war zwar Mitglied im Kalligraphie-Club, aber tatsächlich habe ich mehr Zeit mit meinen Freunden verbracht, so wie die anderen Studenten auch (lacht).
Wann begannen Sie mit den Reisen, um Aikido zu verbreiten?
Das allererste Mal war 1975, als ich mit Mamoru Suganuma-Shihan Doshu nach Europa begleitete. An jedem Ort herrschte eine andere Trainingsatmosphäre, geprägt von dem ausrichtenden Lehrer. Auf jeden Fall war ich sehr beeindruckt von zum Beispiel unserem Hotel in Rom, in das altertümliche Ruinen in den Bau integriert wurden. Ich erinnere mich auch an die Schönheit des Meeres in Cannes. Um ehrlich zu sein, beschäftigen sich die meisten meiner Erinnerungen und Eindrücke an diese Reise mehr damit auf meiner ersten Auslandsreise gewesen zu sein, als mit dem Aikido-Training. Wir waren 25 Tage dort, aber hatten einen ziemlich vollen Terminplan.
Ich hörte Ihr Englisch sei ganz gut…
Das würde ich nicht sagen! Früher konnte ich etwas, aber ich glaube, es ist schlechter geworden! (lacht)
Manche sagen, die waffenlosen Techniken seien die Basis des Aikido, während andere behaupten Aikido sei ein sogenanntes “umfassendes Budo” (Sogo Budo), das auch Waffentechniken beinhaltet. Was ist Ihre Ansicht?
Es ist sicherlich richtig, dass der Gründer oft mit Waffen trainiert hat, wie dem Ken (Schwert) oder dem Jo (kurzer Stab) und auch erklärte, dass dies Aikido sei; aber der größte Teil meines Trainings fand bei meinem Vater, dem vorherigen Doshu, statt, so dass ich geneigt bin, die von ihm unterstützte Interpretation zu vertreten, dass nämlich die waffenlosen Techniken die Grundlage des Aikido bilden.
Das bedeutet nicht, dass irgendetwas am Waffentraining mit Ken und Jo falsch ist. Leute, die sich dafür interessieren, sollten sich damit befassen. Es macht keinen Sinn dies zu verbieten. Es völlig in Ordnung, wenn diese Leute die Waffen bei einem Teil Ihres Trainings verwenden, aber ich halte es für einen Fehler darauf zu beharren, sie formten (die Grundlagen des) Aikido.
Haben Sie die Gelegenheit gehabt, unter dem Gründer zu trainieren?
Viele Leute fragen mich das. Ich weiß, es klänge gut und würde zu meinem Image passen, wenn ich sagen könnte: “Ja, ich habe viel spezielles Training unter dem Gründer erhalten”, aber das war nicht der Fall (lacht). Ich war als kleiner Junge manchmal bei ihm und sah ihm zu. Ich lebte unter dem gleichen Dach wie er und sah ihn trainieren, ich bin auch bei seinem morgendlichen Training gewesen, aber daran war nichts besonderes. Manchmal unterrichtete der Gründer die ganze Stunde, aber mindestens genau so oft unterrichtete mein Vater und der Gründer kam für einige Zeit dazu, um seine eigenen allgemeinen Erklärungen zu dem abzugeben, was die Klasse gerade übte. Das war ungefähr das Ausmaß meines Trainings unter ihm. Manchmal während des Unterrichts am Morgen rief er mich zu sich und plauderte etwas mit mir, wie Großvater und Enkel, aber er hat mich nie aufgefordert auf die Matte zu gehen und zu üben.
Fanden Sie ihn jemals Angst einflößend?
Nicht wirklich. Ich kann mir vorstellen, dass seine Schüler dies so empfunden haben, bedenkt man die Schüler-Lehrer-Beziehung zwischen ihnen, aber ich war nur sein Enkel und er hat niemals die Beherrschung mit mir verloren, so wie bei anderen. Ich glaube sogar, er ist nicht ein einziges Mal ärgerlich meinetwegen gewesen, selbst als ich klein war und neben ihm saß und ihm aus Spaß auf den Kopf schlug. Ich erinnere mich nicht daran, aber andere sagen, dass ich das getan habe (lacht).

von Stanley Pranin
Aikido Journal #118 (Fall/Winter 1999)
Übersetzt von Stefan Schröder

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