Interview mit Moriteru Ueshiba 2. Teil

Die Ueshiba-Familie hat seit 80 Jahren Beziehungen zu der Omoto-Religion. Welche Bedeutung hat der Omoto für Ihre Familie heute?

Mein Großvater war offensichtlich stark von der Omoto-Sekte beeinflusst, als er Aikido schuf, insbesondere von Onisaburo Deguchi-Sensei. Mein Vater ist in diesem Umfeld aufgewachsen, aber ich denke er war niemals so beeinflusst wie sein Vater. Er hat gewissenhaft alle Riten und Funktionen in diesem Zusammenhang beachtet, aber hat den Omoto nicht ständig besucht, so wie mein Großvater dies tat, und ich tue dies auch nicht.Der Gründer ließ einen Omoto-Schrein erbauen und als er starb, wurde dort traditionsgemäß eine Locke seines Haares verwahrt. Wenn wir das Taisai (wörtlich “großes Fest”, eine jährliche Zeremonie zur Erinnerung an den Todestag des Gründers) abhalten, vollziehen die Priester des Omoto die Riten, aber diese Tradition gründet sich auf die besondere Beziehung, die der Gründer zum Omoto hatte, nicht auf die Beziehungen der Ueshiba-Familie. Der Tempel der Familie Ueshiba ist tatsächlich immer noch Kozanji in Tanabe in der Wakayama-Präfektur; dort ist auch die Asche des Gründers begraben. Morihei Ueshiba war bei der Formulierung des Aikido stark vom Omoto beeinflusst, diese Beziehung besteht also bis zu einem gewissen Grad; aber die Beziehung mit dem Kozanji als dem Familientempel unserer Vorfahren wiegt schwerer.
Während der 1970er Jahre verließen einige Leute den Aikikai aus verschiedenen Gründen, aber wollten dann später zurückkehren und dies wurde ihnen auch gestattet. Es scheint mir, als wäre diese Aufgeschlossenheit dem ehemaligen Doshu Kisshomaru sehr wichtig gewesen. Als jemand der ihm sehr nahe war, können Sie uns Näheres über seine Einstellung erzählen?

Der Gründer sagte immer: “Es gibt keinen Ausschluss (hamon) vom Aikido.” Es gibt jene, die den Aikikai verlassen haben, aber niemand hat sie dazu aufgefordert. Mein Vater vertrat diese Einstellung. Wenn Ausgetretene zurückkehren wollten, so gab es keinen Grund sie daran zu hindern. Das einzige Problem könnte sein, dass die Zurückkehrenden unweigerlich Einfluss auf diejenigen bekommen werden, die geblieben sind. Aber Aikido handelt nicht vom gegenseitigen Ausschalten und Ausmerzen, es geht um die Schaffung von Harmonie, darum, Menschen zusammen zu bringen. Das ist die Grundlage des Aikido und es war unbezweifelbar diese Haltung, die meines Vaters Antworten in solchen Fällen leitete.
Aikido wird nun schon seit mehr als 40 Jahren außerhalb Japans praktiziert und unter diesen Aikidoka sind nicht wenige, die ihr Training bei Aikikai-Lehrern in Japan begannen, die dann aber ihre eigenen unabhängigen Gruppen gründeten. Es gibt aber auch solche, die nach Japan kommen, um engere Kontakte mit dem Aikikai zu knüpfen. Wie sollte mit solchen Situationen umgegangen werden?

Würde man den traditionellen japanischen Weg wählen, so müsste man sich an den japanischen Lehrer wenden, der einen ursprünglich unterrichtete, aber für einige Gruppen ist dies aufgrund zurückliegender Umstände unmöglich.
Der Aikikai hat jetzt eine Abteilung für Internationale Angelegenheiten eingerichtet. Leute, die mit dem Aikikai Beziehungen aufnehmen oder wiederaufnehmen wollen, können eine Anfrage mit den wichtigen Unterlagen an diese richten; dann werden wir sehen was wir tun können. Jeder Fall ist natürlich einzigartig, aber solange die korrekten Verfahrensweisen eingehalten werden, sollten die meisten dieser Gruppen zum Aikikai zurückkehren können.
Welche Bedeutung hat die 1975 gegründete Internationale Aikido Föderation für den Aikikai?

Die Leute, welche die Internationale Aikido Föderation gegründet haben, leben noch, deshalb sollte Sie besser die fragen, aber allgemein gesagt war wohl der Hauptzweck die internationale Verbreitung des Aikido zu fördern. Das war vor 24 Jahren und die Aikido-Welt ist seit damals erheblich größer geworden. Zwischenzeitlich hat sich der Informationsaustausch erheblich vereinfacht, zum Beispiel durch das Internet, aber auch der Ausbau der jedermann zugänglichen Verkehrsnetze hat den sozialen Hintergrund seit damals erheblich verändert.
Die Internationale Aikido Föderation ist nach dem westlichen Verständnis von Demokratie aufgebaut und stärkt horizontale Beziehungen. Der Aikikai dagegen ist eine Non-Profit-Organisation, die auf eher traditionellen Familien- oder Erbregeln (Iemoto) beruht, betont also eher vertikale Strukturen. Wie kann man diese verschiedenen Organisationsstrukturen — die horizontale und die vertikale — versöhnen, so dass sie erfolgreich zusammenarbeiten können?

Die von Ihnen genannten Unterschiede verursachen tatsächlich einige Probleme, aber selbst wenn es manchmal Verstimmungen gibt, so denke ich doch, dass die beiden Organisationen recht gut miteinander zurecht kommen und dass es nicht wirklich viele ernsthafte Streits gibt.
Es gibt viele Nicht-Japaner, die von einer “demokratischen” Organisation das Bild haben, dass wichtige Angelegenheiten von jedermann mitbestimmt werden können. Wäre es im Hinblick auf die Internationale Aikido Föderation nicht korrekter diese als Tochterorganisation des Aikikai zu betrachten? Hat der Aikikai über Iemoto nicht doch die Kontrolle über die Föderation, ganz so wie über die Dan-Vergabe?

Der Aikikai ist — natürlich — die Grundlage. Aber das heißt nicht, dass er immer alle Entscheidungen trifft, egal was die jeweilige andere Partei wünscht. Der Aikikai ist im Wesentlichen ein Kollektiv von Leuten, die sich aufgrund ihrer gemeinsamen Interpretation vom Aikido Morihei Ueshibas zusammen schlossen. Diese Leute waren Mitglieder der Organisation, die sich unter ihm entwickelt hat. Diese Gruppe von Leuten ist letztlich von der japanischen Regierung als Gesellschaft unter dem Namen Aikikai anerkannt worden.
Die Aktivitäten des Aikikai erstrecken sich auch ins Ausland und die Internationale Föderation ist eine Institution darin, die eine horizontale Struktur hat, mit eigenen Regeln, Bestimmungen und Offiziellen. In einer solchen horizontalen Organisation werden die Entscheidungen natürlich durch die Wahl der Mehrheit bestimmt und ihre Statuten bestimmen, dass dies so sein muss. Es führt unausweichlich zu Einzelfällen, in denen die Dinge anders gehandhabt werden, als der Aikikai dies für angemessen empfindet. Wenn man eine Organisation schafft und ihr eine eigene Satzung gibt, dann passiert so etwas natürlich.
Wie dem auch sei, wie ich schon erklärte ist der Aikikai noch immer im Wesentlichen eine Organisation von Leuten, die das gleiche Verständnis vom Aikido des Gründers haben und die zusammen gekommen sind, um es zu respektieren und zu erhalten.
Aikido ist eine der wenigen modernen Budo-Disziplinen, die noch das Iemoto-System aufrecht erhält. Es ist auch eine der wenigen, in der tatsächlich der offizielle Nachfolger des Systems die Kunst weiterführt. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Besonderheit des Iemoto-Systems für das heutige Aikido?

Aikido ist eine Kampfkunst in der es keine Wettkämpfe gibt in denen es darum geht herauszufinden wer der Überlegene ist. Statt dessen strebt man nach einem elementaren Ideal der Schaffung des Respekts zwischen [allen] Menschen. Die Frage ist: Wie koordinieren wir die Organisation und Verbreitung dieses Ideals? Die Antwort darauf — und das habe nicht ich persönlich entschieden — ist, dass den natürlichsten Ansatz für eine solche Organisation das Iemoto-System darstellt, welches in Japan eine lange Tradition besitzt. Ich bezweifle, dass es viele Japaner gibt, die dieses in Frage stellen oder seltsam finden; für uns ist das ganz natürlich. Wenn mich ein Nicht-Japaner fragt, warum dies so sei, kann ich nur antworten, dass dies ein Teil unseres Erbes ist, ein Teil von uns, wie DNS. Vermutlich kann man derartige Dinge nicht zufrieden stellend erklären (lacht).
Ja, es ist wie Sie sagen für Japaner offenbar sehr natürlich und akzeptabel. Wie steht es mit Ihrem ältesten Sohn? Zeigt er Interesse Ihnen als Doshu nachzufolgen?

Er ist in die gleiche Umgebung hineingeboren wie ich und auch darin aufgewachsen. Er ist bei der 37. Jährlichen All-Japan Aikido Demonstration dabei gewesen, bei der in diesem Jahr auch eine Trauerfeier für meinen Vater stattfand. Derzeit ist er im dritten Jahr an der Hochschule, aber ich denke er hat mehr Interesse am Aikido als ich in seinem Alter. Er scheint sein Training recht zielstrebig zu verfolgen (lacht).
Aikido erhielt in der Vergangenheit nicht nur starke Unterstützung durch das Omoto-Kyo, sondern genoss auch erhebliche Unterstützung durch einige Einzelpersonen mit hohem sozialen Status. Während der Gründer in Ayabe lebte, hatte er Kontakt mit Seikyo Asano und Admiral Isamu Takeshita; später, durch das geknüpften Netzwerk, auch zu Gombei Yamamoto und anderen politischen Führern jener Zeit. Viele dieser Verbindungen bestanden bis zu einem gewissen Grad über den Krieg hinaus — Kenji Tomita und Kin’ya Fujita wurden kurz nach dem Krieg Direktoren des Aikikai. Der frühere Premierminister Toshiki Kaifu wäre auch noch zu nennen. Bitte erzählen Sie uns von der Rolle dieser Leute für die Entwicklung des Aikido.

Die Zeiten vor und nach dem Krieg waren für das Aikido verschiedene Epochen. Vor dem Krieg war Aikido weitgehend unbekannt und nur durch die von Ihnen genannte Unterstützung war es dem Gründer möglich nach Tokyo zu kommen. Dass diese Leute Morihei Ueshiba unterstützten, beweist in meinen Augen, dass sie der Meinung waren, dass er wirklich etwas Wunderbares zu bieten hatte. Wie Sie schon sagten, bestanden diese Verbindungen auch noch nach dem Krieg. Herr Kaifu kam zum Aikido durch die Bekanntschaft zwischen meinem Vater und Herrn Yoshimasa Mayazaki.
Hat Herr Kaifu selbst Aikido trainiert?

Ja, als wir noch das alte Holz-Dojo hatten. Heute ist er natürlich mit seinen Verpflichtungen in der Regierung beschäftigt, so dass er wohl keine Zeit mehr für das Training findet. Vor und nach dem Krieg wurde das Direktorat des Aikikai von Mitsujiro Ishii [ein ehemaliger Leiter der Asahi-News-Organisation, der Aiki-Budo und Daito-Ryu-Aikijujutsu vor dem Zweiten Weltkrieg gefördert hatte] geleitet. Sunao Sonoda, ein ehemaliger Kabinettsminister, kam von 1955 bis in die späten 1960er jeden Tag zum Training. Ich glaube, er ist auch Vorsitzender der All-Japan Aikido-Föderation gewesen. Wenn man sich die alten Programme der Demonstrationen ansieht, dann findet man diese Namen: Ishii-Sensei und Sonoda-Sensei. Ishiis Enkel hat hier auch lange Zeit trainiert.
Dass Aikido diese Unterstützung hatte, liegt natürlich größtenteils an der wunderbaren Persönlichkeit von Morihei Ueshiba und an dem Aikido, das er schuf. Durch Beziehungen wurden viele positive Dinge erreicht und haben, so denke ich, auch einen positiven Einfluss in der Gesellschaft. Ich würde auch erwähnen, dass die andauernden Bemühungen meines Vaters die Absichten das Aikido zu verstehen und zu verbreiten dem Aikido halfen, von dort an fortzuschreiten. Dadurch konnte es so viele Menschen erreichen.
Shigenobu Okumura Shihan sagte einmal in einem Interview mit dem Aikido Journal, dass Kisshomarus drei große Beiträge folgende seien: Organisation, Weitergabe und Theoretisierung.

Dem würde ich zustimmen. Aikido existiert heute nicht nur wegen der Person, die es schuf, sondern auch aufgrund der stetigen Anstrengungen vieler anderer, die über viele Jahre zu der Weiterentwicklung des Aikido beigetragen haben. Dies ist der Grund, warum mein Vater sogar von der japanischen Regierung für seine Arbeit als Doshu ausgezeichnet wurde.
Welche Ziele streben Sie als dritter Doshu der Aikido-Tradition an? Welche Träume hoffen Sie für die Zukunft des Aikido umsetzen zu können?

Ah, das werde ich oft gefragt (lacht)! Aikido wurde von einem Mann erschaffen und von einem anderen verbreitet; was bleibt da noch für mich? Meine Antwort darauf ist, dass mein Beitrag für das Aikido nicht so groß sein kann. Viele Menschen haben dazu beigetragen das Aikido dahin zu bringen wo wir heute stehen. Ich denke meine Rolle hat mehr damit zu tun, einen Weg zu schaffen und zu erhalten, den diese Menschen — und jene, die Aikido gerade erst entdecken — gemeinsam weitergehen können, einen Weg der ihnen erlaubt gemeinsam im Geiste der Freundschaft und Solidarität zu üben.
Als ich klein war kannte kaum jemand Aikido, aber das hat sich geändert und heute gibt es beträchtlich mehr Menschen, die zumindest davon gehört haben. Da wir nun so weit gekommen sind, ist es nun unsere Aufgabe [Aikido] weiterzuführen und in einer klaren und geordneten Form weiterzugeben, welche ihre Essenz erhält. Also ist mir wichtiger als zu sagen, Aikido solle so oder so sein oder sich auf diese oder jene Weise entwickeln, eine Umgebung zu schaffen, in der wir das weiter betreiben, was wir schon mit Erfolg tun.
Hat sich Ihr Leben seit Sie Doshu wurden geändert?

Nicht sehr. Schon bevor sich die Gesundheit meines Vaters verschlechterte hatten wir die Lehrverpflichtungen in Japan und im Ausland aufgeteilt. Aber in den letzten beiden Jahren seines Lebens konnte er nicht mehr reisen, so dass ich die Auslandsreisen übernahm. In diesem Sinne hat sich für mich nicht viel geändert, da ich diese Pflicht schon übernommen hatte. Doch obwohl sich an dem was ich tue wenig geändert hat, ist das Gefühl von Verantwortung als Doshu doch schwerwiegender geworden. In dieser Hinsicht fühlt es sich ganz anders an.
Das kann ich mir vorstellen. Aber angesichts Ihrer Persönlichkeit bezweifle ich, dass Sie die Art Führer sind, der in seinem Elfenbeinturm sitzt, sondern eher die freundliche Sorte, mit der man reden kann und auf die man leicht zugehen kann.

(Lacht) Ja, das hoffe ich doch! Das Gesicht meines Vaters war mit 48 Jahren viel ernster als meines nun im gleichen Alter ist. Tatsächlich war er viel lockerer als sein Ausdruck nahe legte, was vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass er in einer anderen, härteren Zeit aufwuchs.
Die Bedingungen während der Kriegsjahre haben sicherlich viel damit zu tun. Es scheint einen Unterschied zwischen den Leuten zu geben, die diese Zeit erlebten und jenen, die sie nicht kennen.

Menschen dieser Generation haben sicherlich eine gewisse Ernsthaftigkeit an sich.
Ich glaube kaum, dass ich Ihnen die Antworten liefern konnte auf die Sie gehofft hatten. Es gibt bestimmt Leute, die von mir Sätze erwarten wie: “Ja, als Enkel des Gründers habe ich von klein auf ernsthaft trainiert!” Aber ich bin mit solchen Behauptungen nie durchgekommen (lacht).
Im Gegenteil. Ich begrüße Ihre Offenheit, wie die meisten meiner Leser sicherlich auch und die anderen Mitglieder der Aikido-Gemeinschaft ebenfalls. Vielen Dank, dass Sie Ihre Zeit und Gedanken mit uns geteilt haben!

Übersetzt vom Japanischen ins Englische von Derek Steel
von Stanley Pranin
Aikido Journal #118 (Fall/Winter 1999)
Übersetzt von Stefan Schröder
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