Interview mit Seiseki Abe

Der folgende Artikel wurde mit der freundlichen Hilfe von Shaun Ravens (USA) erstellt.Das folgende Interview mit Seiseki Abe wurde am 11. Juli 1981 im Dojo von Herrn Steven Seagal geführt.
Editor: Meister Abe, ich glaube, das erste Mal trafen Sie Meister Ueshiba vor dem Krieg während eines Misogi-Trainings. Ist das richtig?

Abe-Sensei: Ja, ich traf Meister Ueshiba vor dem Krieg. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Meister Kenzo Futaki, ein Medizin-Professor an der Universität von Tokyo, ein “Misogi-Kai” (eine Gruppe trifft sich zu gemeinsamen Reinigungs-Ritualen) organisiert. Am Ise-Schrein (Sitz des kaiserlichen Ahnen-Schreins, gewidmet der Vorfahrin der kaiserlichen Familie, der Sonnengöttin Amaterasu Omikami) gab es ein “Misogi-Dojo”, ein wunderschönes Dojo. Nach der Niederlage wurden die Schreine und alles, was mit den Kami (Göttern) zu tun hatte, unterdrückt und das Misogi-Dojo wurde zerstört. Ich schätze, heute stehen an derselben Stelle Büros irgendeiner religiösen Organisation. Das ist wirklich bedauerlich. Wirklich schade.

Meister Futaki begann mit dem Aikido als er schon über 60 Jahre alt war. O-Sensei respektierte ihn sehr. Er war damals 65 Jahre alt, ich war erst 25. Meister Futaki war natürlich sehr gesund.

Ich erinnere mich an ein Misogi-Kai 1941. Die Reinigungsriten bestanden unter anderem darin, täglich drei Mahlzeiten zu essen, die aus insgesamt vier Tassen dünner Hafersuppe mit braunem Reis bestanden. Und wir duschten mit kaltem Wasser, um alle Unreinheiten von Körper und Geist fortzuwaschen. Wir arbeiteten daran Chinkon (Stille des Geistes) zu erreichen. Während dieser Woche sollte es auch einige Unterhaltung geben. Während einer dieser Sitzungen stand ein gewisser Meister auf und sagte: “Ihr jungen Leute habt keine Disziplin heutzutage” und er fuhr fort: “Falls einer von euch jungen Kerlen glaubt, dass er es mit mir aufnehmen kann, dann nur zu!” Drei Leute drängelten nach vorn, bereit anzugreifen. Wie er es gemacht hat, weiß ich nicht, aber sie wurden alle geworfen. Sie ergriffen Jo (Kampfstöcke) und wurden angewiesen aus allen Richtungen anzugreifen. Sie dachten nun: “Dieser alte Opa nimmt den Mund ziemlich voll.” Aber wieder, ohne dass ich sagen könnte, wie es geschah, flogen die drei wieder durch die Luft. Jeder war von den wundervollen Techniken beeindruckt. Wir waren sehr überrascht von alldem. Später wurde uns erzählt, dass ein Wunderkerl namens Morihei Ueshiba etwas unterrichtete, dass “Ueshiba Ryu Taijutsu” genannt wurde. Falls wir ihm jemals begegnen sollten, müssten wir unbedingt diese Kunst erlernen.

Das war 1941. Ich erinnere mich, dass ich das wirklich versuchen wollte. Aber niemand wusste, wo sich Meister Ueshiba aufhielt.

Das erste Mal begegnete ich Meister Ueshiba im Dojo von Meister Bansen Tanaka in Osaka. Ich wusste nicht, dass dort die Eröffnungszeremonie eines Dojos gefeiert wurde. Ich kam zufällig vorbei, als ich ein Schild bemerkte, auf dem der Name Morihei Ueshiba stand. Ich nehme an, das war eine Art (mysteriöses) Zeichen von O-Sensei; wie auch immer, ich ging hinein. Ich erfuhr, dass das Dojo erst am Tag zuvor geöffnet hatte und das die Vorführung während des Misogi-Kai von eben diesem Meister Ueshiba vollführt worden waren. Als ich dies erklärte, wurde ich sofort nach oben geführt. Ich fragte Meister Ueshiba: “Wie haben Sie so wundersames Budo gelernt?”. Er antwortete: “Durch Misogi.” Ich hatte seit 1941 Misogi geübt. Als ich hörte, dass Aikido von Misogi kam, machte es plötzlich Klick und die beiden griffen ineinander. Dann und dort entschied ich, mich dem Studium des Aikido zu widmen und bis zum bitteren Ende bei O-Sensei zu bleiben.

Der Meister erzählte mir von einem Misogi während seiner Zeit in Hokkaido, als er zu den ersten Siedlern in Shirataki gehörte.

Im Winter, inmitten all des Schnees, selbst wenn 20 oder 30 Zentimeter lagen, habe ich Misogi geübt. Ich habe auch Chinkon geübt. Jeden Morgen ging ich zum Fluss, schöpfte Wasser mit einer großen Kelle und auch wenn das Eis an den meisten Stellen dick war, an meiner Misogi-Stelle war es nur dünn.

Alleine vom Zuhören fror ich.
O-Sensei praktizierte also schon Misogi, bevor er mit der Omoto-Religion in Kontakt kam. Ich frage mich, wann Meister Ueshiba tatsächlich damit begann.

Ich weiß es nicht genau, aber ich war einige Male mit ihm bei Misogi-Zeremonien. O-Sensei und ich wurden einmal zu einem gewissen Shinto-Priester eingeladen, der tief in den Bergen hinter der Stadt Yokkaichi lebte. Dieser Priester wurde dann ein Kyoshi (lizenzierter Lehrer) als Sensei starb. Wie auch immer; es gab dort einen Wasserfall. Ich habe daheim ein Foto auf dem O-Sensei zu sehen ist, wie er dort Chinkon übt. Da er auf dem Bild unbekleidet ist, gehörte es sich eigentlich nicht zu fotographieren, deshalb steht es bei mir in einer dunklen Ecke (lacht).
War Sensei damals ungefähr 75 Jahre alt?

Das stimmt. Und extrem gesund. Sein Körper war biegsam wie der eines Siebzehn- oder Achtzehnjährigen. Über die Jahre hat er allerdings an Gewicht verloren und er beklagte sich, dass seine Muskelkraft nachließe. Wenn er aber sein Ki in sie legte, dann wurden sie – “Zack” – hart wie Stahl.
Glauben Sie, dass sich O-Senseis Techniken dieser Periode signifikant von denen späterer Jahre unterschieden?

Das in seinen späteren Jahren geübte Aikido konnten selbst junge Mädchen, Alte und Kinder ausführen. Das ist ein großer Unterschied. Ich denke, man kann sagen, dass das Training vor dem Krieg ernster und strenger war. Vor dem Krieg hatten wir starke und unnachgiebige Techniken, im Gegensatz zu den unseren Gegner kräftigenden Techniken, die wir jetzt haben. Mit anderen Worten, die starken Techniken – jedenfalls im Fall von O-Sensei, umfassten mehr als nur die Kraft jemanden zu verletzen. Er hatte eine Erfahrung (Satori) von meisterhafter Technik, die die Trainingspartner belebte. Ich glaube, das ist wirklich großartig.

Ich glaube, der Grund für die heutige Popularität des Aikido ist nicht, dass es einfach eine weitere Kampfkunst ist. Es geht darüber hinaus und gibt Leben. Es ist tatsächlich eine harmonische Vereinigung mit dem Großen Universum – eine wirklich wunderbare Sache.
Wie weit war Meister Ueshiba von der Omoto-Religion beeinflusst?

Sie meinen im religiösen Sinne von Omoto beeinflusst? Das ist schwer zu sagen. Der größte daher stammende Einfluss ist (das Konzept der) Kotodama und das Kojiki. Das brillante Kojiki und die Techniken, die O-Sensei schuf, waren untrennbar verbunden. Wenn O-Sensei über das Kojiki sprach, dann nicht in Bezug auf literarische oder gelehrte Erklärungen. Er las das Kojiki im Hinblick auf Kotodama (die Wissenschaft der dem gesprochenen Wort innewohnenden Kraft).
von Stanley Pranin
Aiki News #45 (February 1982)
Übersetzt von Stefan Schroeder

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