Kampfkunst im Niedergang? Teil 1

Besuch in einer Buchhandlung
Kürzlich besuchte ich eine große Buchhandlung in Las Vegas. Ich hatte zufällig einige Stunden zur freien Verfügung, während ich auf das Ende des Musikunterrichts meines Sohnes wartete. Eine solch luxuriöse Gelegenheit hatte ich seit Jahren nicht gehabt. Während ich durch die Gänge schlenderte und mal hier, mal da schaute, entschied ich mich einen Blick auf die Kampfkunstbücher und -magazine zu werfen, insbesondere das Aikido interessierte mich. Was ich feststellen musste, erstaunte mich!

Ich muss etwas ausholen. Vor etwa zehn Jahren, als wir noch die Papierausgabe des Aikido-Journal herausgaben, besuchte ich regelmäßig Buchhandlungen in Südkalifornien, um den Verkauf und die Vorräte des Magazins zu prüfen und um auf dem Markt der Kampfkunstpublikationen auf dem Laufenden zu bleiben. Zu jener Zeit waren viele Kampfkunstmagazine erhältlich, beinahe ein ganzes Regal war den Kampfkünsten vorbehalten. Hinzu kam, dass es mehr Bücher über Aikido als über jedes andere Kampfkunstthema gab.

Was ich nun vorfand, traf mich wie ein Schock. Es gab nur eine Ausgabe des Black-Belt-Magazins, keine weiteren Kampfkunst-Magazine. Hinsichtlich der anderen Bücher über Kampfkünste sah es ähnlich dürr aus. Nur ein Regalbrett eines Bücherregals war diesen vorbehalten. In dieser dürftigen Sammlung befassten sich lediglich fünf oder sechs Titel mit Aikido. Falls dieser Mangel an Kampfkunstpublikationen repräsentativ für die derzeitigen Umstände in der Verlagswelt sein sollte, dann scheint das Aikido – und die anderen Kampfkünste nicht weniger – den Kampf um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu verlieren, welche zwischen Tausenden von Möglichkeiten wählen kann ihre Freizeit zu gestalten.

Angeregt durch diese Erfahrung erinnerte ich mich an die Gespräche, die ich in den letzten Jahren mit Aikido-Kollegen geführt hatte, die eigene Schulen führen. Ich habe viele Geschichten gehört, die mich zu der Annahme führen, dass die Kampfkünste sich auf dem absteigenden Ast befinden. Lehrer sprachen über sinkende Schülerzahlen, Mietrückstände, Schließungen von Dojos und den Schwierigkeiten klar zu kommen. In mehreren Fällen wurde mir von den Lehrern ehemals großer erfolgreicher Schulen berichtet, dass sie nun eine schwere Zeit durchmachten. Falls diese Eindrücke die Wirklichkeit der Kampfkunst wiedergeben, frage ich mich, was in den letzten rund zehn Jahren geschehen ist, das uns in diese beklagenswerte Lage gebracht hat.
Kampfkünste: Verloren im Meer der Möglichkeiten

Wie ich schon andeutete, gibt es heutzutage einen Überfluss an Möglichkeiten Sport oder Persönlichkeitstraining zu betreiben. Für diejenigen, die geneigt sind eine Form der körperlichen Betätigung zu wählen, gibt es die westlichen Sportarten und vielerlei neu entwickelte Freizeitaktivitäten, die vor noch nicht einmal zwanzig Jahren nicht existierten. Diejenigen, die sich nicht körperlich betätigen wollen, sondern einen eher sitzenden Lebensstil pflegen, können sich mit ihrem Fernseher 24 Stunden am Tag mit Sportsendungen versorgen, neben der ansonsten üblichen Berieselung. Natürlich kann man auch ein Buch lesen, aber immer weniger Menschen tun dies auch. Aber was die Freizeitlandschaft in den letzten Jahren tatsächlich verändert hat, ist das Aufkommen des Internet.

Noch niemals zuvor gab es solch ein Feuerwerk an neuen Technologien, die Informationen zu jedem erdenklichen Thema im Nu und jederzeit bereitstellen. Jeder, den irgendeine Fragen beschäftigt, kann sich aufmachen und die Antwort auf die Frage suchen. Vielleicht wurde auch schon ein ähnliches Problem gelöst. Die Möglichkeiten sind einfach revolutionär. Desweiteren ist dies eine Technologie, die nicht nur den Reichen oder einer sozialen Elite zur Verfügung steht. Es steht den Menschen aller sozialen Schichten gleichermaßen zur Verfügung, selbst große Anteile der Gesellschaften in Entwicklungsländern verfügen über vernetzte Computer oder werden dies in naher Zukunft tun.

Diese vielfältigen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung bedeuten, dass eine potentielle Aktivität auf die eine oder die andere Weise hervorstechen muss, um überhaupt als Betätigungsfeld eine Chance zu haben. Ich denke, dass die Kampfkünste im Allgemeinen und das Aikido im Besonderen hier einige Defizite aufweisen. Der Glanz des Neuen und Exotischen, den die Kampfkünste in den westlichen Ländern einst trugen, hat sich abgenutzt, seit sie vor mehr als 40 Jahren in das öffentliche Bewußtsein traten. Wir leben nicht mehr in den 1960ern, in denen die Samurai-Streifen von Regisseur Kurosawa mit Männern wie Toshiro Mifune noch Kult waren. Lange vorbei sind die Zeiten in denen Bruce Lee und Karate-Kid in der Öffentlichkeit für Aufregung sorgten. Den vorerst letzten größeren Rummel markieren wohl die Filme von Steven Seagel, die – obwohl sie ein verwegenes und verzerrtes Bild vom Aikido zeichnen – zumindest die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich lenkten und somit für einige Zeit großen Erfolg zeitigten. Das Publikum bevorzugt zur Zeit die komödiantischen und kämpferischen Fähigkeiten von Jackie Chan und die phantastiereichen Darbietungen von Stars wie Jet Li, die uns von chinesischen Filmproduzenten serviert werden.

Es muss auch bedacht werden, dass wir es mit einer Generation von Menschen zu tun haben, die eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne besitzen, zweifellos die Folge einer langjährigen Ernährung mit Werbung, Action-Filmen, Videospielen und ähnlichem, die in schneller Folge Tausende von Bildern über den Bildschirm flimmern lassen. Falls durch ein kleines Wunder eine [solchermaßen vorbelastete] Person einer Kampfkunst-Schule beitritt, so scheint es unwahrscheinlich, dass sie längere Zeit dabei bleibt.
Versagen bei der Lebendighaltung der Wurzeln und Kernprinzipien der Kunst
Auch wenn ich glaube, dass diese Diagnose für die Kampfkünste im Allgemeinen gilt, so scheint gerade Aikido in den letzten Jahren an Boden verloren zu haben, da versäumt wurde die Prinzipien zu artikulieren, die der Kunst zugrundeliegen. Aikido-Lehrer mögen Lippenbekenntnisse bezüglich der Ideen der Begründers Morihei Ueshiba (1883-1969) ablegen, doch selbst erfahrenen Lehrern fehlt das Wissen über die kulturellen und historischen Hintergründe der Kunst und sie ignorieren den schwierigen Prozess, der zu dessen Erschaffung führte.
Um den auf dem Shinto basierenden Glauben von Ueshiba für ein internationales Publikum genießbar zu machen, ist die meiste religiöse Sprache und Metaphorik entfernt worden, die seine Sprache und seine Schriften charakterisierte. Was übrig bleibt ist ein vereinfachter Ausdruck, der – obwohl noch philosophischer Natur – seinen einzigartigen japanischen Kulturzusammenhang verloren hat.

Da in der [Aikido-]Gemeinschaft nur ein spärliches Verständnis für die Wurzeln der Kunst vorherrscht, kann Aikido sich in den Augen der nicht informierten Öffentlichkeit nicht von den alten Jujutsu-Stilen unterscheiden, die sich – wenn auch in veränderter Form – im Westen verbreitet haben.

Ich denke, dass sich dies sehr wohl auf die meisten Kampfkünste übertragen lässt. Es ist üblich, dass sich die Techniken und Prinzipien einer Kampfkunst von denen der Begründer entfernen. Die Kunst entfernt sich so weit von der ursprünglichen Form, dass man sich verbiegen muss, um für sie den gleichen Namen zu verwenden. Die Übenden einer Kampfkunst ignorieren ihre Geschichte zu ihrem eigenen Schaden.

30. November 2006
Las Vegas, Nevada
von Stanley Pranin
Published Online
Übersetzt von Stefan Schröder

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