Kampfkunst im Niedergang? Teil 2

Aikido und die Kampfkünste: Das zweischneidige Schwert des Wettkampfsports

Ein weiterer Faktor, der dazu beiträgt, dass die Öffentlichkeit die grundlegenden Prinzipien nicht nachvollziehen kann, besteht darin, dass die Kunst keinen Wettkampf betreibt. In den Augen der meisten sind die Kampfkünste nur weitere Sportarten. Der durchschnittliche Bürger kann die Unterschiede zwischen den traditionellen kriegerischen Disziplinen, die zur Selbstverteidigung und zur Persönlichkeitsentwicklung entstanden, und dem modernen Sport nicht erkennen.

Betrachen wir zum Beispiel das Judo. Jigoro Kano (1860-1938) gelang erfolgreich die Vereinigung der Elemente der beiden großen Jujutsu-Systeme, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts überlebt hatten. Er erzielte diesen Erfolg durch die Schaffung einer Wettkampfform, die – nachdem sie einige Verbreitung gefunden hatte – schließlich Eingang in die Lehrpläne der Schulen fand. Die Wandlung des Jujutsu in eine Sportart und dessen Akzeptanz durch das pädagogische Establishment stellte die Verbreitung des Judo in ganz Japan sicher, später reichte sie sogar über Japans Grenzen hinaus. Kano machte sich auch die olympischen Ideale des Franzosen Pierre Coubertin zu eigen und arbeitete hart daran, Judo als olympische Disziplin anerkennen zu lassen. Traurig nur, dass der Begründer des Judo seinen Traum nicht mehr verwirklicht sehen konnte, denn erst 1964 wurde Judo anläßlich der Olympischen Spiele in Tokyo anerkannt.

Kano hatte nicht mit dem negative Einfluss gerechnet, den die Wettkämpfe auf das Sport-Judo haben würden. Die Wettkämpfer eigneten sich befremdliche Strategien an, um zum Sieg zu gelangen, die sich zwar innerhalb der Regularien bewegten, vom Standpunkt des Kämpfens oder der Verteidigung aber – also ihrem eigentlichen Grundprinzip – sinnlos waren. So gab es in einer früheren Phase der Judo-Geschichte Wettkämpfer, die sich aufgrund ihrer Fähigkeiten in “Newaza” gleich zu Beginn eines Kampfes zu Boden fallen ließen, um ihre Gegner ebenfalls zu Boden zu zwingen, weil sie sich dadurch einen Vorteil versprachen.

In späteren Jahren kritisierte Kano das Wettkampf-Judo und bedauerte einige seiner früheren Entscheidungen, nachdem er mitansehen musste, wie die Sportlermentalität und dessen Kulter seine Kreation beeinträchtigte. Obwohl Judo noch weit verbreitet ist – hauptsächlich aufgrund von dessen Institutionalisierung – so betrachten es doch nur noch wenige als ein Selbstverteidigungssystem, denn größere Athleten werden gewöhnlich kleinere besiegen, selbst wenn sie ungeschickter sind. Minoru Mochizuki pflegte zu sagen, dass “Ju-do” (柔道、der sanfte Weg) für viele zu einem “Ju-do” (重道、der schwere Weg) geworden ist!

Verschiedene Aikido-Stile haben mit unterschiedlichem Erfolg mit Wettkampfformen experimentiert. Das bekannteste Beispiel ist das Tomiki-Aikido, geschaffen von Kenji Tomiki (1900-1979). Er war stark von sowohl Jigoro Kano wie auch Morihei Ueshiba beeinflusst. Ab Ende der 1950er Jahre entwarf er eine Wettkampfform nach dem Vorbild des Judo. Er war nur teilweise erfolgreich und wurde von den Anängern anderer Stile des Aikido dafür gemieden, dass er den Wettkampfgedanken im Aikido eingeführt hatte, im Gegensatz zu Ueshibas Prinzipien. Tomikis Nachfolger experimentieren weiterhin mit seinen Theorien, indem sie die Regeln des Sport-Aikido in dem Versuch verändern, Tomikis Ideale umzusetzen.

Ironischerweise führten sowohl das Yoshinkan von Gozo Shioda, als auch das Shinshin Toitsu-Aikido von Koichi Tohei in den 1990er Jahren einen Sportaspekt in ihre Stile ein. Die Vorführenden treten gegeneinander an, erhalten Punkte und die Sieger werden mit Trophäen oder ähnlichem geehrt.

Selbst das Aikikai Welt-Hauptquartier – obwohl es unerschütterlich daran festhält, dass Aikido eine wettbewerbslose Kampfkunst ist – trat vor einigen Jahren der Internationalen World-Games Association bei, um auf globaler Ebene zu weiterer Anerkennung zu gelangen. Aikido wird in dieser Organisation als “Demonstrations-Sportart” geführt, kann aber, da es über keine Wettkämpfe verfügt, kein vollwertiges Mitglied werden. Kürzlich setzte die IWGA den Aikikai unter Druck eine Wettkampfform zu entwickeln, wenn es in der Organisation verbleiben wolle. Der Aikikai lehnte ab und eine zukünftige Mitgliedschaft scheint fraglich.

Die Umwandlung einer Kampfkunst in einen Sport ist zweischneidig: Es kann ein Mittel zur Popularisierung und zum Überleben der Kunst sein; gleichzeitig besteht das Risiko, dass diese Entwicklung den Kernprinzipien der Kunst zuwiderläuft, Judo und Karate sind hier die besten Beispiele. Gemixte Kampfkünste, UFC, K1, Vale Tudo und andere Zerr- und Prügel-Veranstaltungen machen heute Furore. Diese sind weitere Beispiele dafür, wie die Elemente verschiedener traditioneller Kampfkünste zusammengeflickt werden und ein Sport daraus gemacht wird, so dass am Ende eine praktisch nicht mehr wieder zu erkennende Form der ursprünglichen Kampfkünste entsteht.
Mangel an Geschäftssinn
Ein weiterer Schlüssel zur Erklärung des Niedergangs der Kampfkünste liegt im Mangel an Geschäftssinn, den viele Instruktoren an den Tag legen, wenn sie eine Karriere als Berufslehrer anstreben. Technische und pädagogische Fertigkeiten allein reichen nicht, um den Erfolg einer Kampfkunstschule zu gewährleisten. Management und Buchhaltung, Kommunikationsfähigkeit, Gesetzgebung, Möglichkeiten der Förderung durch die Kommunen und viele andere Fachgebiete müssen beherrscht werden, um Erfolg zu haben.

Ein weiterer Punkt ist – und ich halte dies für ein Zeichen unserer Zeit -, dass viele Dojo-Gründer von einer schwachen finanziellen Basis starten. Sie haben zu wenig gespart und müssen Kredite aufnehmen, um ihre Kampfkunstschule zu eröffnen. Da sie über keine Reserven verfügen, sei es psychologisch oder finanziell, haben sie gleich zwei Probleme gleichzeitig zu bewältigen. So gehen sie dann bei der ersten finanziellen Durststrecke unter. Andere halten länger durch, aber scheinen nicht vorwärts zu kommen und schließen dann doch irgendwann. Das wäre erledigt!

In diesem kurzen Aufsatz habe ich versucht an der Oberfläche der Probleme zu kratzen, mit denen sich die Kampfkünste in der heutigen von Konkurrenzdenken geprägten, gnadenlosen Welt herumplagen müssen. Aikido und verwandte Kampfkünste haben ein gutes Stück Arbeit vor sich, wenn sie im unbarmherzigen Marsch in diesen technologisch fortgeschrittenen Zeiten überleben wollen. Es wird gut ausgebildeter Führer und Profis bedürfen, welche die einzigartigen Aspekte der Kunst artikulieren, die sie repräsentieren, um den Trend umzukehren, gegenüber einem Publikum, welches die Qual der Wahl hat.

Ich denke, wir Aikido-Enthusiasten tun gut daran, uns über die Grenzen von Organisationen hinweg auszutauschen, uns gegenseitig Rat und Ermutigung anzubieten und unsere Erfahrungen zu sammeln, um unsere Botschaft mitzuteilen. Das Internet, welches noch in den Kinderschuhen steckt und beinahe alleinig für die heutige Informationsflut verantwortlich ist, kann auch als ein Werkzeug zur Verjüngung des Aikido und anderer Kampfkünste verwendet werden. Wenn sich die Übenden in wahrhaft demokratischen Gemeinschaften zusammenfinden, welche nationale Grenzen sprengen, haben wir alle Möglichkeiten einen neuen Geist in die Gemeinschaft zu tragen und sie wieder in das öffentliche Bewusstsein zu rücken.

30. November 2006
Las Vegas, Nevada
von Stanley Pranin
Published Online
Übersetzt von Stefan Schröder

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