Kenji Shimizu – Der letzte Schüler von O Sensei Ueshiba 1.Teil

Man sagt, O Sensei Morihei Ueshiba habe Zehntausende von Schülern unterrichtet. Einige von ihnen widmeten sich mit Leib und Seele dem Aikido, indem sie Uchi Deshi wurden, und bildeten die Gruppe der Meister, die das Aikido in der Welt entwickelten. In diesem sehr geschlossenen Kreis pflegten manche wie Minoru Mochizuki Sensei eine sehr enge Beziehung zu dem Gründer des Aikidos. Kenji Shimizu ist eine dieser seltenen Personen, die O Sensei unmittelbar unterrichtete und der er ganz besondere Aufmerksamkeit schenkte. Léo Tamaki hat für Sie „den letzten Schüler“ Meister Ueshibas getroffen.

Sensei, in Ihrer Kindheit haben Sie mit dem Judo angefangen?
Kenji Shimizu: Ich war damals 13 Jahre alt und habe bis zirka 23 geübt. Dies hat mir zwar eine gute Basis, aber auch schlechte Gewohnheiten verschafft. In meinen ersten Aikidozeiten beunruhigte sich Osawa Sensei darüber, dass dies mein Aikido, besonders das Verständnis der Uke-Übung, beeinträchtige.

Was ist in dieser Hinsicht der Hauptunterschied zwischen Judo und Aikido?
K.S.: Es ist ähnlich. Allerdings wird man beim Judo geworfen, nachdem man Widerstand geleistet hat, während man beim Aikido den Wurf akzeptiert, ohne sich der Technik zu widersetzen. Man täuscht aber das Folgen nicht vor. Heute ist das aber oft der Fall. Bevor die Technik ausgeführt wird, springt der Partner von alleine.

Wenn der Wind weht, biegen sich die Äste. Weht er sehr stark, biegt sich der Baum, weht er sanft, flattern die Äste langsam. Beim Aikido ist es ähnlich, man soll nicht allein fallen, sondern sich mit der Bewegung harmonisieren, sei sie sanft oder stark. Beim Judo gewöhnt man sich daran, zu widerstehen, und ich glaube, dass ich diese Macke hatte. Aber nach und nach habe ich es geschafft, natürlich und richtig zu fallen.

Waren Sie nie verletzt?
K.S.: Doch, mehrmals. Schauen Sie, meine beiden Gelenke sind verschieden, dieses ist durch einen Nikkyo entstellt worden. Wenn man noch nie einen Nikkyo erlebt hat und jemand es einem so plötzlich, gewaltig einsetzt, wirkt es wie ein Blitz im Kopf. Dann habe ich natürlich versucht, das zurückzugeben, was mir angetan wurde. Aber der Partner ließ sich nicht darauf ein.

Mit der Zeit macht man natürlich Fortschritte, und wenn man  die korrekte Form lernt, wird man wirklich stark. Später bin ich zu denjenigen, die mich verletzt hatten, gegangen und habe sie gebeten, mit mir zu üben, aber diese antworteten mir immer: „Ach, heute kann ich nicht, mein Ellbogen ist verletzt“ oder „Mein Knie tut weh.“ (Lacht)

Eine Vorstellung mit Morihei Ueshiba

Wie sind Sie dazu gekommen, vom Judo zum Aikido überzugehen?
K.S.: Wegen des Alters kann man nicht immer weitersiegen, auch wenn man stark ist. Herr Kaburagi, einer meiner Bekannten, fragte mich eines Tages, ob ich mich dem Judo wirklich widmen wollte. Darauf sagte er mir: „Heute ist Judo ein Sport.“ Dies war vor 43 Jahren…

Wenn du kein Judo, sondern echtes Budo machen willst, musst du dem letzten der Budoka begegnen.“ Es war Morihei Ueshiba, und ich hatte noch nie von ihm gehört. Herr Kaburagi arrangierte dann mit ihm ein Treffen, bei dem ich ihm vorgestellt wurde. O Sensei, Kisshomaru Sensei, Tohei Sensei, Herr Kaburagi, Muko, die Tochter von Osawa Sensei, die später meinen älteren Bruder heiratete, und ich waren dabei.

Wie ist Ihr Treffen gelaufen?

K.S.: Als ich ihn kennen gelernt habe, wunderte ich mich, dass so eine Person überhaupt existiert. Es war, als ob er aus der Vergangenheit kommen würde. Er war wie jemand, der zu einer anderen Zeit lebte.

Auf den ersten Blick ist etwas zwischen uns passiert. Wir waren uns zwar nie begegnet, aber kaum hatte ich ihn gesehen, habe ich ihn geachtet und bewundert; er seinerseits schien mich zu schätzen und wollte, dass ich mit ihm übe. Ich hinterließ meine Adresse, als ich aufbrach und hatte bereits vor, wiederzukommen. Aber Kisshomaru selber rief mich an und sagte mir, O Sensei möchte mich gerne wieder treffen und fragen, wann ich wieder kommen würde. Ich bin sofort hingegangen und O Sensei sagte mir: „Normalerweise nehme ich keinen Uchi Deshi mehr auf. Aber möchtest du mein Uchi Deshi werden?“ Ich habe zugesagt, und deswegen haben die Leute damit begonnen, mich den letzten Schüler zu nennen. Es gab andere Uchi Deshi nach mir, Endo oder Suganuma, aber seine letzten Schüler wurden sie nicht.

Worum handelte es sich, als Sie zum ersten Mal O Sensei begegnet sind. Gab es eine Vorführung?

K.S.: An dem Tag hat Tohei Sensei eine Vorführung gemacht. Als O Sensei mich zum zweiten Mal zu sich kommen ließ, kam ich während seines Unterrichts an. Zu dem Zeitpunkt, als ich das Dojo betrat, wandte er sich zu mir und rief nach mir. Vor anderen Schülern hat er bei mir Techniken angewandt und erklärte mir dabei einige Grundaspekte.

O Sensei der letzte Bujutsuka

Wie oft haben Sie damals trainiert?
K.S.: Ich hatte kein Geld und wenn ich trainierte, hatte ich noch mehr Hunger. (Lacht) Zum Glück, je mehr man trainiert, desto mehr Fortschritte macht man. So erhielt ich nach drei Jahren den vierten Dan. Ich hatte den ersten Dan nach einem Jahr erhalten und dann habe ich ca. alle sechs Monate einen Dan erhalten.

Ich hatte das Glück, in die besten Orte geschickt zu werden, um zu unterrichten oder O Sensei zu begleiten, und ich habe die Ehre gehabt, ihm viel als Uke zu dienen. Diese Übungsmomente bleiben für mich ein wertvoller Schatz, der mich noch heute in meiner Übung führt.

Bei wem haben Sie Techniken gelernt?

K.S.: Es gab viele Senseis und als ich Uchi Deshi geworden bin, habe ich jeden für mich zugänglichen Unterricht besucht. Aber die Tatsache, Uchi Deshi von O Sensei zu sein, hat mir am meisten geholfen.

Über die Technik als solche hinweg habe ich seine Seele beobachten können. Man musste seine Absicht in seinem Geist lesen und unmittelbar reagieren, um seiner Technik folgen zu können. Er war in der Auswahl seiner Partner sehr strikt. O Sensei war streng. Konnte der Uke nicht richtig folgen, brach er in Wut aus und schrie: „Was machst du?“ (Lacht). Man musste imstande sein, ihm auf einen Millimeter perfekt zu folgen. Er duldete keinen Augenblick der Unaufmerksamkeit. Zum Beispiel, nachdem man geworfen wurde, durfte man ihm beim Zurücksetzen nicht den Rücken zeigen. Man sollte ihn dabei weiter anschauen. Seine Sorge um authentisch martialische Übung vertiefte sich bis zum kleinsten Detail hin.

Heutzutage gibt es wenige Lehrer, die in dieser Hinsicht anspruchsvoll sind. Doch ohne korrekten Reigisaho kann es kein Budo geben.

Wie viele Uchi Deshi gab es damals, abgesehen von Ihnen?
K.S.: Es gab viele davon. Ich glaube, als ich ankam, gut ein Dutzend. Aber die Leute um mich fragten sich, warum ich akzeptiert hatte, Uchi Deshi zu werden.

Es war wirklich eine Übergangsphase. Niemand wusste, was damals aus dem Aikido werden würde. Die Olympischen Spiele kamen und die Wirtschaft stieg schnell. Aber wir selber hatten nicht genug Geld, um uns ein passendes Hakama zu leisten. (Lacht) Sogar die Sempai waren in derselben Situation!

Ihr Leben als Uchi Deshi musste damals ziemlich schwierig sein, oder?
K.S.: Wir hatten ja kein Geld, aber unser Leben war voller Fülle und intensiv. Mir bleibt keine schmerzhafte Erinnerung. Wir hatten keine Zeit, an oberflächliche Dinge zu denken, und sobald wir für uns waren, schliefen wir. (Lacht)

Da ich der letzte Ankömmling war, musste ich den Einzelunterricht weiter leiten, während die anderen im Büro waren, Tee trinken und sich unterhalten durften. Es war für mich nicht wirklich spaßig. Alle waren zwar da, aber sie ließen die Schüler gedulden, während ich eine Unterrichtsstunde zu Ende brachte, damit ich die darauf folgende Einheit übernehme! Ich musste meine Zeit mit einem leeren Bauch beim Unterrichten und üben verbringen. Aber so ist das Leben im Dojo. Es gab viele Persönlichkeiten, die Einzelunterricht nahmen. Und es wäre sehr schlimm gewesen, wenn eine von ihnen wegen eines etwas harten Wurfes verletzt worden wäre. Ich fragte mich immer, warum ich solchen gar nicht unterhaltsamen Unterricht leiten musste. Aber dies habe ich später verstanden. Solche schwierigen Momente gab es halt. (Lacht)

Gaben Sie also den ganzen Einzelunterricht?

K.S.: Es gab welchen, den ich selber gab und welchen, zu dem ich als Assistent, bzw. als Partner für den Sensei und den Schüler, kam. In diesem Fall war es anders, und ich bin dafür dankbar, das Glück gehabt zu haben, O Sensei in seinem Einzelunterricht zu begleiten.

Es gab zum Beispiel Hioki Hidehiko. Dieser Mann war ungefähr 65 Jahre alt und einer der persönlichen Schüler O Senseis. Wir waren also immer zu dritt, und in diesem Fall zeigte O Sensei zahlreiche verschiedene Techniken.

Aufgrund seines Alters musste Herr Hioki bei zehn Minuten Training fünf Minuten ausruhen. Da er Diabetiker war, geriet er sehr schnell außer Atem. Dann schaute mich O Sensei so an, als würde er mich fragen, ob ich eine Frage hätte. Sofort nutzte ich die Gelegenheit aus, um ihn zu befragen: „ O Sensei, in dieser Situation…“

Als ich Judo geübt habe, hatte ich nie eine einzige Frage gestellt. Dies waren unschätzbare Momente. In Berührung mit O Sensei gewesen zu sein ist der Schatz, der von seinen Uchi Deshis am meisten verehrt wird.

Es scheint, dass O Sensei zu Ihnen besondere Zuneigung hatte?

K.S.: Ich glaube ja. O Sensei hat viele Schüler gehabt. Einige von Ihnen behandelte er besonders wohlwollend, z. B. Mochizuki Sensei, dem er in seiner Kindheit nahe stand, oder mich, in der letzten Phase seines Lebens. Er hat mich unzählige Male geworfen. So hat er die Leute, die er besonders schätzte, behandelt! (Lacht)

In jedem Augenblick rief er, um zu wissen, ob ich anwesend war. Ich war zwar beauftragt, viel Einzelunterricht zu geben, aber er kümmerte sich nicht darum. Wenn er das Dojo verließ, rief er und schickte mich mit Bokken und Jo fort. Zwar hatte ich Unterricht, Einzeltraining zu leiten oder Termine, aber O Sensei sorgte sich nicht um solche Angelegenheiten. (Lacht)

Ich war Uchi Deshi und es gab nichts anderes zu tun, als seinem Anruf sofort nachzukommen.

Er rief aber nicht von einem nah gelegenen Ort an, in den man sich innerhalb einer halben Stunde oder Stunde begeben konnte. Er rief von Osaka, Iwama oder solchen Orten an. Dies geschah ständig.

Aber gleichzeitig war er unglaublich nett und kümmerte sich um mich wie ein Großvater um seinen Enkel. Zum Beispiel gab es solche Geschichten. O Sensei wollte zum Iwama-Schrein fahren. Ich meinerseits beendete den Privatunterricht und sagte mir, endlich werde ich einen schnellen Mittagsschlaf machen. Morgens gab es zwei normale Unterrichtseinheiten und zwei oder drei Einzelunterrichtsstunden, dass ich oft nicht genug schlafen konnte.

O Sensei kam an und sagte mir: „Ach, Shimizu, ich gehe nach Iwama, komm mit mir!“ Iwama lag damals weit entfernt und die Strecke dahin war lang, man brauchte mehrere Stunden, um sich dorthin zu begeben. Natürlich antwortete ich eifrig „Ja, ich habe verstanden“ und fing mit den Vorbereitungen an. Aber ich war oft müde und meine Antwort klang sehr wahrscheinlich schwach. Es gibt Momente, in denen der Körper anfängt, schwer zu folgen, und natürlich spürte O Sensei das. Dann kam er fünf oder zehn Minuten später und sagte mir: „Ach, Shimizu, für heute langt es, du brauchst nicht mitzukommen.“  Er hatte die ganze Situation begriffen.

O Senseis Güte bestand darin, mich viel als Uke zu nutzen, sich aber auch um mich bis zu diesen Details zu kümmern.

Mit freundlicher Genehmigung von Léo Tamaki. Herzlichen Dank.
Blog Budo no Nayami von  Léo Tamaki

Übersetzung: Gaëlle Hemkemeier
Aus: Tendoryu-Aikido

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