Kenji Shimizu – Der letzte Schüler von O Sensei Ueshiba 3.Teil

O Sensei war eine besondere Persönlichkeit, und es gibt zahlreiche Geschichten, die es beweisen. Einer der Sempai hat mir zum Beispiel folgende Geschichte erzählt.  Eines Tages ruft O Sensei nach ihm und sagt ihm: „Ein Besucher kommt zum Dojo. Hole ihn ab und begleite ihn hierher.“  Der Schüler fragt ihn dann, ob er mit jemandem verabredet sei, aber dieser verneint. Er fragt ihn dann, woher er wissen kann, dass jemand kommt. O Sensei sagt ihm „Eine Person wartet in der Nähe vom Tabakhändler um die Ecke. Sie ist weiß bekleidet und trägt einen Hut. Hole sie ab.“

Der Schüler ist dann ausgegangen und sagte sich, dass O Sensei unsinnige Sachen erzählte. Er trifft aber auf eine Person, die so aussieht, wie O Sensei sie beschrieben hatte! Darauf fragt er sie, ob sie O Sensei besuchen will, und diese antwortet: „Ja, sie haben richtig erraten. Ich kann das Dojo aber nicht finden. Sind Sie einer seiner Schüler?“ „Ja, O Sensei hat mich geschickt, um sie abzuholen“ „Wie bitte? Ich habe aber niemanden benachrichtigt.“ Ebenso der Besucher wie der Schüler waren verblüfft. (Lacht)

Solche Sachen gab es. O Sensei sah plötzlich die Person in seinem Geist. Es ist eine wahrhafte Geschichte, die Mochizuki Sensei mir erzählt hat.

O Sensei war ein bedeutender Mann und zugleich ein Exzentriker. Er war aber kein Gott oder Ähnliches. Es kam vor, dass es wie jeder Mensch stolperte oder fiel, und in diesen Augenblicken sagte ich mir, dass er nicht anders war als mein Vater. Was das Bujutsu betrifft, war er unvergleichlich. Als ich mit Aikido angefangen habe, hatte man mir gesagt, dass er der letzte der Bujutsuka in Japan war. Er war sicherlich der letzte aber insbesondere der größte. Wir haben wirklich ein großes Glück gehabt.

Wo wohnte O Sensei hauptsächlich? In Iwama, Tokio, bei Schülern?

K.S.: Über die sieben Jahre, die ich bei ihm verbracht habe, lebte er hauptsächlich im Hombu Dojo und er verreiste wenig.

Welche Meister haben Sie am meisten geprägt?

K.S.: Außer O Sensei: Osawa Sensei. Wir waren uns sehr nah und hatten fast eine Vater-Sohn-Beziehung. Er hat mir viel, weit über das Aikido, beigebracht.

Damals musste ich viel Einzelunterricht geben. Und ich sah immer aus, als würde ich einen leeren Bauch haben. Dann fragten mich viele Schüler: „Shimizu Sensei, sind Sie heute Abend frei?“ Ich antwortete: „Um frei zu sein, bin ich frei.“ Und sie luden mich zum Essen ein. Ich war so froh, dass ich solches Angebot immer annahm.

Schließlich hörte Osawa Sensei von diesen Einladungen und er kam zu mir: „Ich habe gehört, dass du schon wieder eingeladen worden bist. Anscheinend verstehst du zwar solche Sachen nicht, aber wenn du dreimal eingeladen wirst, musst du mindestens zweimal ablehnen. Einmal geht…“

Er war so nett und erklärte mir solche Sachen. Heute kann ich sie natürlich verstehen, aber in dem Augenblick fragte ich mich, warum ich ablehnen sollte. Hätte er mir solches nicht beigebracht, hätte ich nie gewusst, wie ich mich verhalten soll. (Lacht)

Was mich unter anderem am glücklichsten gemacht hat, war, dass O Sensei und Osawa Sensei jünger geworden waren, seitdem ich angekommen war. Das gehörte wahrscheinlich zu meiner Unbefangenheit.

Zum Beispiel war Osawa Sensei für die zweite Morgenstunde zuständig. Und er rief mich oft von zu Hause im Hombu an. Er sagte mir: „Heute fühle ich mich nicht sehr gut. Gib den Unterricht an meiner Stelle.“ Ich antwortete: „Gut, ich kümmere mich darum. Passen Sie auf sich auf.“ Und dies passierte mehrere Male. Dann sagte er meinem älteren Bruder: „Dein kleiner Bruder ist wirklich frisch.“
Damals war Osawa Sensei achter oder neunter Dan. Wenn er im Dojo anrief und um Vertretung bat, antworteten die Uchi-Deshi alle: „Es ist unmöglich, wir sind nicht in der Lage, Sie zu vertreten.“ Ich hingegen antwortete in aller Freude: „Gut, ich sorge sofort dafür.“ (Lacht) Ich wollte die Sachen gut machen, damit er sich Zeit zum Ausruhen nimmt.

Es gibt auch folgende andere Geschichte. Mit Osawa Sensei und Kisshomaru Sensei gingen wir oft zum Dojo in Odarawa, das eins der wichtigsten war, weil es zu den bedeutendsten Übungsplätzen des Aikikai zählte. Jede Woche ging ich mal mit Osawa Sensei, mal mit Kisshomaru Sensei dahin.

Eines Tages haben wir uns mit Osawa Sensei girrt, sodass wir eine Stunde zu früh angekommen sind. Kurz bevor wir unsere Hakama anzogen, ist es mir aufgefallen und ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht. Dann sagte er mir: „Ach, stimmt. Na dann, wie wäre es, wenn wir ein wenig Judo machen würden?“
Zwischen uns bestand zwar ein großer Altersunterschied, aber er war ein sehr guter Judoka, 3. oder 4. Dan. Ich selber hatte Judo intensiv geübt und ich war 4. Dan. Da er wirklich zum Üben geneigt war, habe ich mich schließlich darauf eingelassen.

Wir setzten uns in Angriffsposition und er sagte mir: „Mach eine Technik“ Ich hatte aber Osawa Sensei vor mir, also traue ich mich nicht. Zudem sage ich mir, wenn ich mit einem Angriff loslege, werde ich sofort gekontert. Er sagt mir: „Sei nicht schüchtern, los, komm.“ Ich frage ihn mehrere Male, ob ich darf und jedes Mal antwortet er: „Aber ja, natürlich.“

Meine Lieblingstechnik war Uchi Mata. Ich versuche, sie auszuführen und peng! Osawa Sensei fliegt hoch. Er steht wieder auf und sagt: „Es ist seltsam.“

Da ich dachte, dass er mich kontern würde, und da er mir sagte, durchzuziehen, hatte ich mich ganz eingesetzt und es geschafft, ihn zu werfen. Wir haben es mindestens fünf- oder sechsmal wieder so wiederholt und jedes Mal funktionierte die Technik. Dann sagte er mir: „Du bist wirklich stark, na?“ Körperlich gesehen lag es ziemlich auf der Hand, da ich sein Sohn hätte sein können.

Am folgenden Tag ruft mich mein Bruder an und sagt mir: „Ich habe gehört, du hast gestern Judo mit Osawa Sensei geübt?“ Ich bejahte, da er darauf bestanden habe, haben wir ein wenig zusammen geübt. „Du hast angeblich die Zeit damit verbracht, ihn gewaltsam geworfen zu haben.“ Ich habe ihm gesagt, ich hätte ihn nicht so viel geworfen, aber er erwiderte: „Auch wenn er dich darum bittet, bleibt er trotzdem dein Meister. Man wirft seinen Meister so nicht!“ (Lacht) Ich war wirklich unbesorgt.

O Sensei war eins dieser Individuen, die es als solche nur alle fünfzig oder hundert Jahre gibt

Folgende Frage ist ein wenig frech, und dafür bitte ich Sie um Entschuldigung, aber aus welchen Gründen haben Sie den Aikikai verlassen?

K.S.: Lange habe ich zwar Stillschweigen bewahrt, aber ich denke, dass ich nach all dieser Zeit über diese Angelegenheit frei sprechen kann. Ich habe mich mit Tohei Sensei gezankt. Zwar habe ich mich mit Tohei Sensei gestritten, aber Kisshomaru Sensei hat sich aufgeregt.

Damals musste ich an zahlreichen Orten unterrichten. Nach dem Abschied von Tamura Sensei war ich derjenige, den man in die wichtigsten Orte schickte; außerdem hatte man mir den Unterricht an die meist angesehenen Persönlichkeiten zugeteilt. So ausgedrückt klingt es imponierend, deshalb möchte ich mich für diese angeberischen Erwähnungen entschuldigen, aber diese Aufträge waren vor allem von der Verantwortung her erschöpfend.

Kisshomaru Sensei war also nett und stellte mich dazu, schickte mich hier- und dahin, zum Parlament, zu den größten Unternehmen, und ich wurde in gewisser Hinsicht als die Galionsfigur des Akikais benutzt.

Kurz darauf kam Tohei Sensei von Hawaii zurück. Die Leute sprachen ihn auf mich an, und dann fing er an zu sagen: „Sind Sie dabei, den Shimizu-Ha  [Shimizus Stilschule] zu schaffen?“ Darauf hat er allmählich die Orte, wo ich Unterricht erteilte, besucht. Er fragte, wer der Lehrer sei.

Man antwortete, es sei Shimizu Sensei. Dann sagte er: „Diese Art Ikkyo ist nicht korrekt! So ein Shiho Nage geht nicht.“ oder andere unhöfliche Sachen. Dann habe ich mich mit ihm gezankt. Obwohl ausgerechnet Kisshomaru Sensei mich hier- und dahin geschickt hatte, hat er sich keineswegs bemüht, zu erklären, dass ich nur gehorchte und dahin ging, wo man mich schickte. Kisshomaru Sensei hat mich nicht unterstützt und Osawa Sensei war in dieser Situation in einer heiklen Position. Dann habe ich angekündigt, dass ich das Dojo verlassen würde. Es war mitten im Jahre 1970.

Haben Sie Ihre Entscheidung nie bereut?

K.S.: Nein. Es gab einen Rechtsanwalt namens Sugimoto, der den Aikikai über zahlreiche Themen beriet. Einige Jahre nach dieser Geschichte wurde er gebeten, sich mit mir zu treffen, um mich zu meiner Rückkehr zu überreden. Dies hat fast ein Jahr lang gedauert, ich habe aber nie zugesagt.

Weil ich alleine geschritten bin, bin ich heute bei diesem Ergebnis. Das Hombu-Dojo ist ein Hundertmillionen Tonnen schweres Schiff, das trotz Wind oder Regen fährt. Hier sind wir wie ein kleines, eine Tonne schweres Schiff. Wenn es regnet, müssen wir Wasser herausschöpfen, und wenn es stark weht, müssen wir das Boot im Gleichgewicht halten. (Lacht) Sogar nachts kann man kein Auge zumachen. Es ist eine Frage des Überlebens. Das bin ich gewohnt und bei so einer Lebensart haben wir es bis dahin geschafft. Das hat unseren Geist gestärkt.

Heutzutage weist die praktische Erfahrung der Meister ungeheuere Unterschiede. Wie ist Ihre Meinung zur Entwicklung des Aikido?

K.S.: Das ist eine sehr heikle Frage. Es gibt gute und schlechte Sachen dabei. Leider sind die schlechten die zahlreichsten.

Ich glaube nicht, dass der Unterschied bei der Form etwas Schlechtes an sich ist. Ich versuche, das Aikido, das O Sensei uns gelehrt hat, zu vermitteln. Beim Zuschauen meiner Technik können manche Personen den Eindruck haben, was ich mache ist anders als das, was er machte. Mein Geist und mein Körper sind anders als die vom Gründer, und es ist unmöglich, dass ich die Techniken genau auf gleiche Weise durchführe.

Dass die Leute, die bei O Sensei gelernt haben, ihre Praxis ihrer Person anpassen, ist normal und natürlich. Dass man aber etwas Grundverschiedenes macht, scheint mir ungeeignet zu sein.

Ist es wichtig, die Grundsätze der japanischen Kultur zu kennen?

K.S.: Hm, das ist eine weitere Frage, auf die man schwer eindeutig antworten kann…

Das hängt vom Individuum ab, und mit diesem Thema habe ich mich persönlich nicht beschäftigt. Meiner Meinung nach verwirklicht das Aikido diesen Aspekt durch die praktische Erfahrung. Ich denke, wenn man die Essenz einer Sache entdeckt, ermöglicht es uns das Verständnis aller anderen.

Welche Eigenschaft soll der Übende versuchen zu entwickeln?

K.S.: Wichtig ist, den richtigen Instinkt zu entwickeln, dem Körper beizubringen, spontan im Einklang mit der Natur zu handeln. Die Techniken kommen zueinander, aber diese soll man nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Körper verstehen. In den kritischen Momenten, wenn man angegriffen wird, reagiert ausgerechnet der Körper auf natürliche Weise.

Aikido lernt man durch die Wiederholung. Die Stärke des regelmäßigen Übens besteht darin, dass sie Lernen mit dem Körper ermöglicht. Das Kokyu, die Fähigkeit, das Ma Ai zu lesen sind Sachen, die man mit seinem Körper fühlen soll, damit man weiter fortschreiten kann. Die Technik entwickelt sich dann mit der Zeit auf natürliche Weise.

Die Form ist aber auch etwas, das man aufgeben muss, um fortzuschreiten. Zwar muss man sie lernen, aber man darf davon nicht abhängig sein. Man verliert sie nicht, vielmehr wird sie zu einem Teil von Ihnen, sodass Sie sie vergessen, weil Sie dieser nicht mehr bewusst sind. Sind Sie dieser noch bewusst, können Sie nicht mehr fortschreiten.

Es ist wie bei einer Tasse, die voll ist: Man kann nicht einmal das Geringste mehr eingießen. Derart üben, dass die Technik so natürlich wird und uns zum Vergessen führt: Das ermöglicht es uns, unsere Fähigkeit, neue Sachen zu lernen, zu bewahren… Dieses ist den Zen-Begriffen sehr nah.

Sie haben mit dem Professor Kamata Shigeo ein Buch über Zen und Aikido geschrieben…

K.S.: Es ist besonders das Werk Kamata Senseis. Ich hingegen habe mich nur mit dem technischen und anekdotischen Aspekt beschäftigt. (Lacht)

Shimizu Kenji von Frédérick Carnet

Haben Sie Zen studiert?

K.S.: Es gibt einen Tempel namens Ryutakuji, wo Yamaoka Tesshu Zen in Mishima, in der Nähe von Shizuoka, übte. Ich stand dem heute verstorbenen Leiter dieses Tempels Suzuki Sochu nahe. Bei einem gemeinsamen Essen sagte er mir: “Sake muss in großen Mengen getrunken werden, Nahrungsmittel müssen übermäßig gegessen werden.“ Er war deutlich älter als ich, und ich sagte ihm: “Sensei, verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, aber trotz Ihres Alters trinken Sie unglaublich große Sakemengen.“ Er antwortete: „Weil ich immer leer bin.“ (Lacht)

Er war wirklich eine besondere Persönlichkeit. Außerdem war er so nett, mir zwei wunderschöne Tendo-Kalligrafien zu zeichnen. Die eine, die im Dojo hängt und eine prächtige, die er erstellt hat, als er betrunken war. (Lacht)

Statt dem Unterricht dieser Personen zuzuhören, gehe ich gern mit ihnen essen und trinken, denn ihre wahre Natur kommt zum Vorschein. Ich gehe nicht so gern zum Tempel, um mir die Predigten der Bonzen anzuhören, auch wenn sie natürlich interessante Sachen sagen. Ich höre sie lieber von einfachen Sachen natürlich erzählen.

Sogar ein Bonze spricht nicht natürlich, wenn er sich an eine breite Versammlung wendet. Seine Figur in seinem Kostüm wendet sich an ein Publikum. Aber der bloße Mann interessiert mich.

Sie haben diese wunderschöne Kalligrafie am Shomen, ich habe aber keine Kamidana (einen den Kami gewidmeten Altar) gesehen?

K.S.: Am Shomen steht kein Kamidana weil nicht nur Shintoisten, sondern auch  Buddhisten, Christen, Leute aus jeglicher Religion zum Training kommen.

Die westlichen und japanischen Kulturen mögen von einander sehr entfernt sein. Zum Beispiel betrachtet das Christentum das Leben als etwas grundsätzlich Wunderbares, während der Buddhismus uns lehrt, dass das Leben auf Leiden basiert und man das Wunderbare nur erreichen kann, indem man es überwindet. Die menschliche Natur bleibt aber dieselbe. Wie verschieden das Land sein mag, wie verschieden die Sitten auch sein mögen, der Mensch hat dieselbe Essenz. Und Ziel des Aikidos ist, sich als Mensch zu verwirklichen.

Hat das Üben also ein geistiges Ziel?

K.S.: Aikido ist ein Budo und dessen Üben bedeutet natürlich, die Entwicklung seiner martialischen Kompetenz zu versuchen. Aber heutzutage neigt das Aikido dazu, sich auf die Übung der Formen einzuschränken. Natürlich ist es etwas Wesentliches, aber auch etwas, das überschätzt wird. Das beunruhigt mich sehr.

In gewissen Dojos ist die Haltung, sobald man das Keikogi trägt, „fabriziert“, unnatürlich, die Leute spielen eine Rolle. Die Kraft, die man wahrnehmen kann, ist nicht die wahrhafte Kraft.

Mit der Zeit soll das Üben es ermöglichen, dass Geist und Körper nur noch eins werden. Je stärker man wird, desto gelenkiger und sanfter mit einem starken Geist wird man. Diejenigen, die nach außen stark aussehen, sind diejenigen, die kein Selbstvertrauen haben. Die Leute, die wahrhaft stark sind, brauchen es nicht nach außen vorzuführen.

Diese Stärke möchte ich erlernen, und ich möchte den Leuten dabei helfen, diese zu erreichen. Keine starke Technik, sondern die Fähigkeit auszuhalten, nicht aufzugeben. Mut und moralische Kraft sind das Wesen der wahrhaften menschlichen Stärke.

Mit freundlicher Genehmigung von Léo Tamaki. Herzlichen Dank.
Blog Budo no Nayami von  Léo Tamaki

Übersetzung: Gaëlle Hemkemeier
Aus: Tendoryu-Aikido

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