Die Kampfkunst Aikido erfreut sich seit ihrer beinahe heimlichen Einführung im Nachkriegs-Japan und ihrer darauf folgenden Verbreitung wachsender Beliebtheit. Während die Kunst aufgrund ihrer ethischen Säulen hoch angesehen ist, wird sie auch oft als zu sanft und ungeeignet für eine echte Auseinandersetzung kritisiert. Ich habe in diesen Chor oft eingestimmt und bleibe auch dabei, dass in vielen Aikido-Schulen ein Aikido praktiziert wird, das den Schülern ein falsches Bild ihrer Fähigkeiten vermittelt, so dass sie in einer echten Kampfsituation schwer enttäuscht werden könnten. Ich glaube noch immer, dass die Verteidigung gegen blutleere, “zeremonielle” Angriffe ohne die Anwendung von Atemi und überzeugende Folgetechniken in einer lebensbedrohlichen Situation höchst verwundbar macht.
In wie weit man nun aber “realistische” Elemente zum Aikido hinzunehmen soll, ist eine ganz andere Frage. Verschiedene Verbesserungen sind bereits vorgeschlagen worden, wie zum Beispiel der Unterricht in Angriffstechniken, ein freizügigerer Umgang mit Atemi, die Übung von spezifischen Selbstverteidigungstechniken, usw. – all dies mit dem Ziel, die vermeintlichen technischen Defizite zu kompensieren.
Ein anderer hin und wieder vorgebrachter Vorschlag zu diesem umstrittenen Thema ist die Einführung von Wettkämpfen. Diese sollen dem Aikido eine realistische Dimension verleihen und die Fähigkeiten zur Verteidigung gegen einen Angreifer messbar werden lassen. Dieses Argument ist oft so beschaffen, dass die Güte verschiedener Kampfsystems sich daran ablesen lasse, wie gut die Praktizierenden in einer Zweikampfsituation zurechtkommen. Zum Beispiel wird gefragt was wohl passiert, wenn ein 5. Dan im Judo auf einen 5. Dan im Karate trifft. Ist Taekwondo dem Kung-Fu überlegen? Kann ein Aikidoka ohne Crosstraining [in einer anderen Kampfkunst] es mit einem Praktizierenden einer der kampforientierteren Systeme aufnehmen? Darüber kann beliebig spekuliert werden und es konnte bisher kein Konsens gefunden werden.
Das bekannteste Beispiel für Wettkämpfe im Aikido ist das Tomiki-System, welches sich die Philosophie von Jigoro Kano, dem Begründer des Judo, zu Eigen gemacht hat. Kenji Tomiki war vor dem Krieg ein Schüler von sowohl Morihei Ueshiba, als auch Kano gewesen und konnte auf eine erfolgreiche Judo-Karriere zurückblicken. Er schuf in den 1950er Jahren im Aikido-Club der Waseda Universität ein Sport-Aikido mit Wettkampfelementen. In diesen Wettkämpfen treten zwei Aikidoka gegeneinander an: Der Angreifer attackiert mit einem Übungsmesser, während sich sein gegenüber mit Aikido-Techniken verteidigt. Nach einer festgelegten Zeit werden die Rollen vertauscht und Punkte vergeben, um am Ende einen Sieger zu bestimmen. Zusätzlich zu diesen Zweikämpfen gibt es Kata-Wettkämpfe. Tomiki-Sensei hat das System bis zu seinem Tod 1979 immer wieder überarbeitet und seine höheren Schüler führen sein Werk unter dem Banner der Japan Aikido Association weiter. Es gibt weltweit ungefähr 100 Schulen und Clubs, die dem Tomiki-System anhängen. Die Erfahrungen mit diesem andauernden Experiment sind durchwachsen, selbst innerhalb des Tomiki-Aikido gibt es welche, die eher die traditionellen Übungsmethoden bevorzugen und ganz auf Zweikämpfe verzichten. Die Methode Tomikis ist von den Angehörigen anderer Aikido-Richtungen mit dem Argument angegriffen worden, dass Wettkämpfe dem zentralen Prinzip des Aikido widersprächen. Aus diesem Grund ist das Tomiki-Aikido ein Außenseiter unter den Aikido-Stilen.
Zwei weitere verbreitete Aikido-Stile haben Wettkämpfe eingeführt, wenn auch in einem nur begrenzten Maße. Sowohl das Yoshinkan, wie auch das Shinshin Toitsu Aikido benoten während Demonstrationen die Teilnehmer in Hinblick auf Ausführung, Balance, Führung, etc. Die Gewinner werden am Ende ausgezeichnet, so wie in anderen Sportarten auch. Diese Art des “freundschaftlichen Wettkampfes” ermutigt die Teilnehmer offenbar zumindest in Vorbereitung einer solchen Veranstaltung ihr Training zu intensivieren. Ich habe den Eindruck, dass Aikido-Puristen, die Tomikis Ansatz missbilligen, mit diesen Formen des Wettkampfes leben können, da Yoshinkan und Ki-Society keine Zweikämpfe austragen, bei denen die Gegner “aufeinander losgelassen” werden. Ich bezweifle allerdings, dass diese Art des Performance-Wettkampfes diejenigen befriedigen kann, die nach Reformen rufen, um dem Aikido “Zähne” zu verleihen, damit durch das Training künftig besser auf Selbstverteidigungssituationen vorbereitet wird.
Der ehemalige Yoshinkan-Shihan Fumio Sakurai verfolgt eine andere Idee, um wieder eine “Budo”-artige Dimension in das Aikido einzuführen. Nach der Ansicht von Sakurai sollte Aikido sich auf seine Wurzeln zurückbesinnen und auf eine energischere Weise geübt werden, so wie damals, vor dem Krieg. Er erinnert sich an das rigorose Training unter dem nun bereits verstorbenen Gozo Shioda im “Höllen-Dojo”, wie das Dojo von Morihei Ueshiba in den 1930er Jahren genannt wurde. Um dieses Ziel zu erreichen, experimentierte er mit einer neuen Form des Wettkampfes, in dem sich zwei Gegner mit bloßen Fäusten gegenüberstehen. Beide tragen Schutzkleidung: An den Knien, den Schienbeinen und den Füßen. Tritte sind gestattet, nicht aber Stöße und Schläge mit den Fäusten, desgleichen verboten sind Angriffe zum Gesicht, Tritte gegen die Seite des Knies, Angriffe zu den Genitalien und andere gefährliche Attacken.
Vor kurzem, am 15. September, besuchte ich die erste Wettkampf-Veranstaltung des Sakurai-Ryu-Aikido. Sechzehn Teilnehmer aus verschiedenen Clubs traten gegeneinander an, und bis auf eine oder zwei Ausnahmen hatte keiner von ihnen Turniererfahrung. Die meisten Attacken bestanden nur aus zaghaften Angriffsversuchen, da ja Atemi nicht erlaubt waren. Am Ende siegten diejenigen, denen es am besten gelang ihrem Gegner so nahe zu kommen, dass sie punkten konnten. Ich konnte während der ganzen Veranstaltung nur zwei klare “Aikido”-artige Techniken beobachten, einen Kote-Gaeshi und einen Armhebel. Der Gewinner der Schwergewichtsklasse war auch der körperlich größte, muskulöseste und durchtrainierteste Athlet, der trotzdem eine Verletzung erlitt und sein Training nach dem Wettkampf einige Wochen aussetzen musste.
Die Herausforderung für die Anhänger des Tomiki-Systems und der Leute wie Meister Sakurai liegt darin, die essentiellen Attribute des Aikido – die in der waffenlosen Selbstverteidigung nach ethischen Prinzipien liegen – in einen Sport zu übertragen, der gleichzeitig nicht zu gefährlich aber dennoch interessant genug für Zuschauer ist. Was geschieht, wenn die Regeln und die natürlichen Gesetzmäßigkeiten eines Wettkampfs die Anwendung von Aikido-Techniken nicht begünstigen? Wie soll man verhindern, dass sich unter den Praktizierenden eine Mentalität des “Gewinnen über Alles” -die Antithese zu Morihei Ueshibas Vision – breit macht? Wenn diese Fragen bei der Fortführung dieser Sportarten unberücksichtigt bleiben, kann man sie dann noch Aikido nennen?
Nachdem ich in der japanischsprachigen Ausgabe der Aiki News von den Aktivitäten Meister Sakurais berichtete, bin ich kürzlich zu zwei Wettkämpfen eingeladen worden, in denen auch Vertreter des bekannten Gracie-Jujutsu zu sehen waren. In der ersten Veranstaltung besiegte Rickson Gracie in seinen drei Kämpfen mühelos jeweils größere Gegner durch entschlossen ausgeführte Würgegriffe. Alles war in Sekunden vorüber; ein Markenzeichen dieses einzigartigen Systems, das sich seinen guten Ruf als effektiver Wettkampfsport wohlverdient hat.
Am meisten beeindruckte mich die Leichtigkeit mit der Rickson seine Gegner überrumpelte und dies ohne jede Verletzung sowohl seiner selbst als auch seines Kontrahenten. Das ist bemerkenswert! Zwei der Gewinner in anderen Kämpfen haben sich ihren Sieg durch gebrochene Hände erkämpft. Ihre Siege waren eine blutige und krude Angelegenheit. Gracie-Jujutsu sollte jeden Aikidoka wegen seines humanen Ansatzes und seiner Effektivität in verschiedenen Kampfszenarien interessieren. Die Top-Vertreter dieser Kunst sind Experten im Ringen und das Wissen um diese Kunst würde jede Kampfkunst ergänzen. Wir werden in naher Zukunft ein Interview mit einem der Gracie-Brüder führen, um Ihnen dieses Kampfsystem genauer vorzustellen.
Für mich, der ich aus der Aikido-Welt komme, waren diese Kämpfe wie eine Offenbarung. Mit Ausnahme der Kämpfe Rickson Gracies, waren fast alle Kämpfe animalisch und abstoßend. Ich glaube, dass die Kämpfer sich eine ganz bestimmte Geisteshaltung aneignen müssen, um in solchen Wettbewerben zu bestehen. Diese Kämpfer müssen lernen aggressiv und rücksichtslos zu sein und die geltenden Regeln so weit wie möglich auszunutzen, um siegreich zu sein. Ich bezweifle, dass solche Charakterzüge einfach ein- und ausgeschaltet werden können. Ich frage mich weiterhin, ob diese Eigenschaften sich durch das Training einprägen und so zu den dominierenden Wesenszügen des Athleten werden und ob die Kämpfer sich auch der damit verbundenen Verantwortung bewusst sind. Nach meinem Empfinden ist die kontrollierte und harmonische Natur des Aikido dieser “dog-eat-dog” Kampfstile im Hinblick auf ein friedliches Miteinander zu bevorzugen, selbst wenn man damit keine Wettkämpfe gewinnt.
Ich habe auch bemerkt, dass viele der Athleten, viele von ihnen Profis, ständig mit der Angst vor Verletzungen leben. In verschiedenen Begegnungen sah ich bestimmte Manöver, die offensichtlich vitale Punkte des Körpers schützen sollten. Auch wenn tödliche Unfälle selten sind, so ist doch die Akkumulation von physischen Schäden über eine längere Zeit der Gesundheit nicht förderlich. Behinderungen, Krankheiten und nicht zuletzt die “Berufsunfähigkeit” winken. Shades of boxing and football!
Diese Wettkämpfe haben mir zu denken gegeben. Ich fragte mich zum Beispiel, ob die Gewinner dieser Kämpfer durch das Besiegen eines Rivalen im Ring eine Fähigkeit bewiesen haben, in einer “realistischen” Kampfsituation zu bestehen. Sicher, sie zeigen sich im Wettkampf als fähige Kampfkünstler. Doch obwohl die ersten Kämpfe, die ich sah als “No-Holds-Barred” (sinngemäß: alles-erlaubt) bezeichnet wurden, fand der Kampf doch in einem abgesteckten Ring statt. Es gab nur einen einzelnen Gegner, kein Überraschungsmoment und natürlich weder versteckte Waffen, noch Feuerwaffen. Trotz der “Alles-erlaubt”-Situation, war sie doch weit vor der Realität entfernt.
Selbst die erstaunlichen Fähigkeiten eines Rickson Gracie geben keinen Hinweis darauf, wie er mit einer “reale” Konfrontation gegen mehrere wahrscheinlich bewaffnete Angreifer, umgehen würde. Seine Chancen stünden natürlich besser, als die einer untrainierten Person, aber Feuerwaffen gegenüberzustehen – das wohl gefürchteteste Szenario eines jeden – ist eine ganz andere Sache, sowohl taktisch, wie auch psychologisch.
Zusammengefasst komme ich zu dem Schluss, dass für den “Samurai” des 20. Jahrhunderts das Kämpfen in Wettbewerben wohl keinen befriedigenden Schritt auf der Suche nach der ultimativen Kampfeskraft darstellt. Ich glaube eher, dass die von einem großen Krieger in der heutigen Gesellschaft benötigten Fähigkeiten, sich erheblich von denen unterscheiden, die in früheren, einfacheren Zeiten benötigt wurden. Die heutigen Krieger sind wahrscheinlich die Frauen und Männer, die bei Polizei und Militär mit der Deeskalations- und Gewaltschulung beauftragt sind, so wie deren Beiträge in Aikido Journal belegen. Diese entschlossenen Individuen besitzen großes Wissen über die vielen Erscheinungsformen der Gewalt und wie man damit umgeht. In ihrem Job lernen sie den Umgang mit Waffen, Taktik und Psychologie. Es sind Menschen, die dem Tod nicht nur einmal ins Auge gesehen haben und die es sich nicht erlauben können, die es sich im Rahmen ihrer Pflicht nicht auch nur einen Augenblick leisten können, unaufmerksam zu sein.
Aikidos wichtigster Beitrag zur Bereicherung der Übenden liegt nicht in der technischen Anwendung, sondern in der Fähigkeit den Geist über die Ebene des dualistischen Denkens zu erheben und zu entwickeln. Ich glaube aufrichtig, dass diejenigen auf der Suche nach dem “ultimativen Kampfsystem”, nur einem Trugbild nachjagen.
von Stanley Pranin
Aikido Journal #102 (1995)
Übersetzt von Stefan Schröder
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