Kultivierung eines kriegerischen Geistes

Jeder nimmt das Training im Aikido mit bestimmte Zielen auf oder um eines besonderen Zwecks willen. Die häufigsten sind die Wünsche sich selbstverteidigen zu können, fit zu werden oder Freunde zu finden. Im Laufe der Zeit verändert sich der Blick auf diese anfänglichen Ziele, während man spürt, dass Aikido das eigene Leben verändert.
Da Aikido – und die Kriegkünste im Allgemeinen – Disziplinen sind, die verletzende und sogar tödliche Techniken beinhalten, sollten diese aufgrund der enthaltenen Gefahren mit Ernst und Augenmerk auf Details geübt werden. In einem solch konzentrierten geistigen Zustand zu trainieren führt nach und nach zu der Kultivierung eines – wie man sagen könnte – “kriegerischen Geistes”.
Wir verwenden hier das Wort “kriegerisch” in gleichen Sinne wie der Begründer das Wort “Bu” in “Budo” (Kriegskunst) interpretierte. “Bu” umfasst zwei Schlüsselkonzepte. Zunächst steht es für ein orientalisches System von Kriegsfertigkeiten mit alten Wurzeln, welches als Ziel die Selbstverteidigung verfolgte. Bu bezieht sich darüber hinaus auch auf eine Aktivität oder ein Streben des Übenden auf einem Weg zur spirituellen Erhöhung. Diese beiden Ideen beinhaltet das Konzept des Aikido, wie es von Morihei Ueshiba begründet wurde.Training mit einem kriegerischen Fokus
Das Bu (kriegerische Element) ist ein so vitaler Bestandteil des Aikido, dass dessen Entfernung die Kunst zu einer reinen Gymnastik degradieren würde. Das Bewusstsein der inhärenten Gefahren des Trainings erzeugt eine geistige Spannung, die mit der Zeit zu einem Zustand erhöhter Sensitivität führt. Es folgen nun einige Vorgehensweisen, welche die kriegerische Geisteshaltung im Dojo schulen.
Etikette
Etikette ist eine der Säulen des korrekten Verhaltens im Dojo. Viele missverstehen wie wichtig die Umgangsformen sind, denen im Dojo gehorcht wird. Die Gebräuche vor, während und nach dem Training sind dazu gedacht, eine kontrollierte Umgebung zu schaffen, in der gefährliche Techniken ohne Gefahr geübt werden können. Etikette sollten nicht als leere Hülsen betrachtet werden, die nur aus Gewohnheit eingehalten wird.Etikette sind auch außerhalb des Dojos von großem Wert. Sie sind das gesellschaftliche Schmiermittel, dass für reibungslosen persönlichen Umgang sorgt. Menschen, die sehr auf Höflichkeit achten, haben wenige Feinde und dies ist für Kampfkünstler ein offenbar angestrebter Charakterzug.
Uke-sein
Im Aikido-Training wechseln die Rollen des Nage (der Werfer) und des Uke (der Geworfene) zwischen den übenden Partnern. Diese Partnerübungen kommen den “Kata” oder “Formen” in anderen klassischen und auch modernen Kampfkünsten sehr nahe. Diese Formen sind im Aikido allerdings weniger streng strukturiert und dienen nur als Richtlinie für die korrekte Ausführung von Techniken – sie können je nach Gestalt des Angriff verändert werden.
Während des Trainings wissen beide Partner vor dem Angriff, welche Technik folgen wird. Auch diese Maßnahme dient der Sicherheit. Uke muss sauber und entschlossen angreifen, ohne die Antwort des Nage, die er ja kennt, vorwegzunehmen. Nage braucht diesen entschlossenen Angriff, um die Prinzipien von Balance, Körpermechanik und Energiefluss verstehen zu können. Ukes kämpferische Grundhaltung wird ihn vor Verletzungen schützen und sowohl zu seinem eigenen Fortschritt, als auch dem des Partners beitragen. Ukes Belohnung für seine Bemühungen ist ein gelenkiger, gut konditionierter Körper, der zu fallen gelernt hat – eine Erfahrung, die viele Menschen als beängstigend, sogar gefährlich empfinden.
Nage-sein
Bei dieser Kata-artigen Vorgehensweise kennt Nage den Ablauf der Attacke und kann sich auf die korrekte Körperhaltung, den korrekten Abstand und auf das korrekte Brechen des Gleichgewichts konzentrieren. Das Element des emotionalen Stresses, das in einer echten Konfrontation hinzukäme, wird im täglichen Training ausgeblendet. Die erste Bewegung von Nage sollte den Partner aus dem Gleichgewicht bringen, weil Uke wehrlos ist, sobald er seinen Schwerpunkt nicht mehr kontrolliert.
Der Nutzen für Nage ergibt sich aus dem Training mit der Zeit, sobald die Aikido-Techniken zur zweiten Natur werden. Der menschliche Instinkt, der auf einen Angriff gewöhnlich mit Konfrontation reagiert, wird auf eine Weise neu organisiert, die eine ausweichende und führende Antwort auf einen Angriff ermöglicht, so wie es im Aikido geübt wird. Nage lernt körperliche und geistige Gelassenheit im Angesicht des Angriffs, der untrainierte Menschen durcheinander bringen würde. Während dieses Lernprozesses – ob dies bewusst geschieht oder auch nicht – wird Nage empfindlicher für die Vorgänge in seiner Umgebung. Er wird in die Lage versetzt zwischen Gefahren und harmlosen Vorgängen zu unterscheiden. Diese Einstellung der ständigen Wachsamkeit unterscheidet Menschen mit einem Budo-Hintergrund von normalen Menschen und ist eine fundamentale Komponente des kriegerischen Geistes.
Trainingsziele erkennen
Aikido-Praktizierende sollten ihre Aktivitäten und Lebensumstände regelmäßig überprüfen und feststellen, ob sich Gefahren oder Schwächen ergeben, die ihre Aufmerksamkeit verlagen.
Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen. Aikidoka erkennen manchmal die Defizite in ihrer Kunst, verglichen mit anderen Kampfkünsten. Es ist dann verlockend in “Was-wäre-wenn”-Szenarien über die Effektivität von Aikido-Techniken zu debattieren. Aber trainieren wir wirklich, um uns gegen einen Wettkampf-Karateka, einen Profiboxer oder Olympiaringer zu verteidigen? Auf welche Weise sollte uns dies bei unserem Versuch uns auf mögliche Angriffe vorzubereiten weiterbringen? Die Kampfkünste können nicht wirklich in eine hierarchische Ordnung hinsichtlich ihrer Effektivität gebracht werden, da es keinen objektiven Standard gibt, in den ihre Vorteile einsortiert werden können. Diese geistige Übung mag Futter für Diskussionsforen sein, aber die hypothetische Natur eines jeden Vergleichs sorgt dafür, dass jede Schlussfolgerung spekulativ bleibt.
Demzufolge sollten wir unser weiteres Üben nicht als Zeitverschwendung ansehen, nur weil unsere Aikido-Fähigkeiten nicht ausreichen, um einen professionellen Kämpfer zu besiegen. Wenn dies unser Ziel wäre, dann würden wir sicherlich nicht Aikido trainieren. Dies soll nicht bedeuten, dass wir aufs Geratewohl trainieren oder uns mit mittelmäßigen Ergebnissen zufrieden geben. Unser Ziel sollte aber sein Leben, Freiheit und Besitz zu verteidigen und nicht einen Opponenten in einem Zweikampf zu besiegen.
Realistische Szenarien
Nehmen wir einmal an, dass wir durch Beobachtung unseres Umfelds zu dem Schluss kommen, dass uns ein willkürlicher physischer Angriff droht. Wir könnten beispielsweise überrascht werden, während wir spazieren gehen, Auto fahren oder selbst wenn wir zu Hause sind. In unserem Beispiel trägt unser Angreifer wahrscheinlich eine Schusswaffe oder ein Messer und hat möglicherweise auch noch Komplizen.
Derartige willkürliche Angriffe funktionieren hauptsächlich aufgrund des Überraschungsmoments. Im Endeffekt ist es oft nicht der raffinierte Überfall, der verletzt oder tötet, sondern die Tatsache, dass das Opfer unachtsam erwischt wurde.
Da wir niemals die genaue Natur eines zufälligen Angriffs vorhersagen können oder auch nur ob überhaupt ein Angriff stattfinden wird, benötigen wir weniger das Wissen über spezifische Verteidigungstechniken, sondern vielmehr eine grundlegende psychische Bereitschaft. Wir müssen uns stets in einem Zustand der Achtsamkeit befinden und instinktiv auf unerwartete Bedrohungen reagieren können. Wir müssen gesund, beweglich und bei guter Kondition sein, sowie uns schnell an herausfordernde Situationen anpassen können.
Warum Aikido?
Daraus ergibt sich logisch folgende Frage: Warum sollte man Aikido erlernen und nicht irgendetwas, das im Falle eines Überfalls von unmittelbarerer Nützlichkeit ist, zum Beispiel wie man Feuerwaffen benutzt oder Straßenkampf. Je nach persönlichen Umständen kann es durchaus angemessen sein auch in anderen Disziplinen zu üben. Es gibt sicherlich gute Argument für Crosstraining [d. h. Training in verschiedenen Disziplinen].

Da dies nun gesagt ist, möchte ich auf einen anderen Grund für das Aikido-Training kommen, der mit der zweiten Komponenten des “Bu” zu tun hat, die ich oben erwähnte: Aikido ist ein Pfad der spirituellen Entwicklung. Es enthält den moralischen Imperativ alle Lebewesen zu respektieren und zu fördern. Aikido entwirft ein idealisiertes Bild einer Welt in Harmonie und die Techniken dieser Kunst konkretisieren diese abstrakte Vision zu etwas Greifbarem. Die Aikido-Techniken beinhalten darüber hinaus das Prinzip der Widerstandslosigkeit. Dies war die Vision des Gründers Morihei Ueshiba, die Aikido-Praktizierende im Gedächtnis behalten sollten. Dies ist auch ein exzellentes Rezept, um sein Leben in einer Welt zu verbringen, die von Gefahr und Zweitracht erfüllt ist.

Epilog: Schwierige Entscheidungen in schwierigen Zeiten
Die meisten der Herausforderungen, denen wir im täglichen Leben begegnen, haben nichts mit physischen Zusammenstößen zu tun. Meistens schlagen wir unsere Schlachten auf einer inneren, psychologischen Ebene, während wir mit den nicht enden wollenden Problemen und Unsicherheiten des Lebens ringen. Der durch Jahre des Aikido-Trainings kultivierte Kampfgeist ist in solchen Zeiten von unermesslichem Wert.
Mit dem 11. September 2001, einem Tag an den man sich noch lange erinnern wird, begann eine Zeit der politischen und spirituellen Krise. Nur zwei Wochen später fand in Kalifornien ein größeres Aikido-Seminar statt. Knapp 300 Leute hatten sich zu dieser Veranstaltung angemeldet. Der eingeladene Lehrer aus Japan beherzigte die Warnungen der japanischen Regierung, seiner Verwandten und Freunde und entschloss sich die Reise abzusagen. Unter den gegebenen extremen Umständen war dies wahrscheinlich eine logische Entscheidung.
Die Sponsoren der Veranstaltung befanden sich nun in der Zwickmühle. Sollten sie das Seminar abblasen und ihre Investitionen abschreiben und damit alle enttäuschen, die eigentlich kommen wollten. Wie sollte man mit denen verfahren, die sich schon angemeldet hatten? Sollten diese ihre Teilnahme absagen und sich in eine Art “Belagerungszustand” zurückziehen und damit ihre normalen Aktivitäten aufgrund der Angst vor dem Unbekannten einstellen?
Die Ausrichter haben eine befriedigende Lösung ausgearbeitet. Sie luden eine Gruppe fortgeschrittener Aikido-Lehrer ein, die sich den Unterricht aufteilten. So konnte das Seminar trotz der widrigen Umstände stattfinden. Mehr als die Hälfte derjenigen, die ursprünglich kommen wollten, kam tatsächlich. Dies ist ein Beispiel, für eine Situationen, in der uns das Training in den Kampfkünsten hilft, mit scheinbar ausweglosen Situationen des täglichen Lebens umzugehen.
Während wir letztes Jahr die Aiki Expo vorbereiteten gab es Zeiten, in denen wir nicht wussten, wohin die weltweite Entwicklung führen würde. Wir mussten jederzeit damit rechnen, dass die Expo aufgrund militärischer oder politischer Ereignisse nicht stattfinden können würde. Doch letztlich fand die Expo statt und war ein uneingeschränkter Erfolg.
Die Machenschaften der führenden Politiker dieser Welt haben auch über die Expo 2003 einen Schatten geworfen. Wir müssen einplanen, dass eine wie auch immer geartete Notlage eintritt, so dass dieses Veranstaltung betroffen wird. Trotz dieser Unsicherheiten bin ich zuversichtlich, dass die Expo nach Plan stattfinden wird. Sie wird nicht nur stattfinden, sondern zudem die stille Revolution fortführen, die wir mit dem Ziel in Gang gesetzt haben, die derzeitigen Trainingspraktiken zu hinterfragen und die Qualität der Kunst zu verbessern.

Stanley Pranin
Februar 2003
Übersetzt von Stefan Schröder
Aus:Aikidojournal

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