Es gibt zwei Arten von Lehren. Eine besteht aus dem, was der Schüler lernen möchte; die andere besteht aus den Lehren, die der Schüler lernen muss. Die erstere erwächst aus einer eigennützigen Haltung; die zweite entspringt einem Sinn von Verantwortung. Welche Methode ein Lehrer wählt, hängt von seinen Motivationen ab. Wir konzentrieren uns hier auf die zweite Lehrweise, da sie auf dem Prinzip “der gegenseitigen Fürsorge und des Wohlstandes” entspricht, so wie es uns von Mochizuki Minoru-Sensei durch Beispiel und Vortrag gelehrt wurde.
Zunächst müssen wir Prüfungen in den richtigen Zusammenhang setzen. Wir verfolgen einen kriegerischen Weg, dessen Sinn und Zweck es ist, seine Schüler in freundliche, weise und starke Menschen zu wandeln. Mit diesem Verständnis denken wir über den Sinn von Prüfungen nach. Im Wesentlichen müssen sie belehren, das heißt, eine Gelegenheit sein, die Schüler in etwas zu schulen. Ein Lehrer sollte Graduierungen und Gurte nicht verwenden, um Schüler anzuspornen oder zu belohnen. Diese Praxis mag zeitweise funktionieren, schafft aber einen gefährlichen Präzedenzfall. Schon bald ist das “Zuckerbrot” alle, und der Lehrer muss dann ein endloses Arsenal an Tricks aufbieten. Ich denke, dass die eingesetzte Energie sich nicht sehr unterscheiden würde, wenn der Lehrer verantwortlich gedacht und gehandelt hätte. Graduierungen sollten nie Selbstzweck werden.
Also: Was ist der Zweck von Graduierungen und Prüfungen?
So wie ich das verstehe, ist der Grad ein Maß für die Fähigkeiten und den Fortschritt des Schülers basierend auf den folgenden drei Kriterien: Shin-Gi-Tai (Geist-Technik-Körper), mit der Erwartung, dass der Schüler sein Studium und seine Übungen fleißig fortführen wird. Der Zweck der Prüfungen ist, den Schülern die Möglichkeit zu geben, sich selbst unter Stress zu bewerten. Da es im Aikido keine Wettkämpfe gibt, sind Prüfungen ein wichtiger Bestandteil des Trainings. Diese Prüfungen sollten von Perioden intensivierten Trainings begleitet werden, wie zum Beispiel Kangeiko (Wintertraining) und Shochugeiko (Sommertraining). Aikido als Kriegsweg eröffnet uns Möglichkeiten uns auf das tägliche Leben vorzubereiten. Nur indem wir uns Stress aussetzen lernen wir mit ihm umzugehen. Wenn dem Lehrer dieses Konzept klar ist, dann fällt es ihm/ihr leicht, es den Schülern zu vermitteln. Die Natur des Aikido ist derart, dass es Menschen anzieht, die tiefer denken oder lernen wollen dies zu tun. Nach meiner Erfahrung verstehen die meisten Schüler dieses Konzept und zeigen dies durch ihr Verhalten. Man muss sich nur die nötige Zeit nehmen, um es zu erklären.
Wir gehen folgendermaßen vor. Budo ist Selbstverteidigung. Dieser Stil hat sehr viele Techniken. Um die Schüler optimal zu trainieren, üben wir lange Zeit eine bestimmte Sorte Techniken und deren Anwendung, denen immer die Übung der Grundtechniken vorangestellt ist. Jeder Schüler sollte ein Notizbuch führen, um die Dinge aufzuschreiben, die ihr/ihm wichtig erscheinen. Wir haben keinen schriftlichen Stundenplan, um die Schüler nicht zu überladen. Die grundlegenden Anforderungen werden während des regulären Unterrichts abgedeckt, die fortgeschrittenen Techniken werden in Seminaren behandelt. Die Prüfungen sollten das normale Trainingsniveau des Schüler wiederspiegeln. So sorgt man für rege Teilnahme. Auf lange Sicht macht dies einen Unterschied. Die Schüler müssen eine Geisteshaltung der Bereitschaft trainieren. Wenn es ein gewisses Maß an Unsicherheit gibt, werden die Schüler davon profitieren. Die Prüfer sind stärker daran interessiert, wie der Schüler sich in einer unerwarteten Situation verhält (dies offenbart seinen/ihren Charakter), als an dessen derzeitigem technischen Können. Ich möchte meinen Schüler ermöglichen den Lehrwert einer Prüfung zu erfahren, etwas, das sie auch in anderen Lebenslagen gebrauchen können.
Wir lassen alle neuen Schüler wissen, dass sie erwarten können einmal jährlich geprüft zu werden, so dass sie nach einem Minimum von sieben Jahren Shodan erreichen. Die Kandidaten werden ausgewählt nach Übungszeit, Teilnahme, Einstellung und Fortschritt. Wenn die Schüler höhere Ränge bekleiden, werden höhere Ansprüche an ihre Vorbildfunktion angelegt (Nachholen von versäumten Stunden, mit Krankheit oder Verletzungen umgehen, ebenso mit persönlichen und beruflichen Problemen), außerhalb wie innerhalb des Dojos.
Wenige Tage vor dem Prüfungstermin werden die ausgewählten Kandidaten eingeladen. Ihnen wird der Sinn der Prüfung in Erinnerung gerufen, desgleichen die Etikette und die Vorgehensweise während der Prüfung.
Die Prüfung wird üblicherweise an einem Sonntag im Hauptdojo stattfinden und kann den ganzen Tag dauern, so wie in Japan auch. Die Schüler werden einer nach dem anderen geprüft, während alle Lehrer zuschauen und bewerten. Die Prüfung wird auf Video aufgenommen. Kandidaten für eine Dan-Prüfung müssen einen Aufsatz schreiben. Während der folgenden Wochen wird der Lehrer auf die Schüler achten und sie korrigieren mit besonderem Augenmerk auf die Gebiete, die verbessert werden müssen. Ich schaue mir die Videos an und vergleiche meine Notizen mit denen der anderen Lehrer. Etwa zwei Monate später treffe ich mich mit den anderen Lehrern, wir diskutieren jeden Einzelfall und entscheiden dann, wer graduiert wird. Ich erläutere [unsere Beobachtungen] vor den Schülern – meist während eines Seminars – und erkläre dann offiziell die Ergebnisse. Dann werden die Schüler daran erinnert, dass die Prüfung ein andauernder Prozess ist, der nicht mit der Verkündung der Ergebnisse beendet ist; dass die Graduierung abgelehnt werden kann, wenn die Schüler sich noch nicht reif für die neue Verantwortung fühlen; dass der Grad nur etwas wert ist, solange man aktiv bleibt (ein Schüler, der ein Jahr pausiert, muss danach wieder mit einem weißen Gurt beginnen). Dies mag radikal erscheinen, hat sich jedoch als gute Prävention gegen chronische Abwesenheit bewährt, eine Krankheit, die in vielen Dojos grassiert. Man muss verstehen, dass ein Schüler, der nach langer Abwesenheit zurückkehrt und den gleichen Gurt behält wie bei seinem vorläufigen Ausscheiden ein schlechtes Vorbild für die anderen Schüler abgibt, insbesondere, wenn sein Rang hoch war. Das Training zu unterbrechen ist ein Anzeichen für die Unfähigkeit Prioritäten zu setzen. Die Schüler, die nach langer Abwesenheit zurückkommen, wissen was sie erwartet und sind beim zweiten Mal noch ernsthafter, auch wenn sie häufig in ihr altes Muster zurückfallen. Wir handhaben dies seit Zwanzig Jahren auf diese Weise. Sie erfordert Mühe von Lehrern, wie auch Schülern, aber die Mühe ist es wert.
Betrachtet man die starke gegenseitige Beanspruchung einer Schüler-Lehrer-Beziehung, so denke ich, dass Lehrer ihre Schüler wie ihre eigenen Kinder behandeln sollten. Es gibt viele Dinge, die Eltern wissen, die Kinder nicht verstehen. Verantwortungsvolle Eltern werden sich vergewissern, dass – egal wie unpopulär ihre Entscheidungen auch sein mögen – sie auf lange Sicht im besten Interesse des Kindes handeln. Später wird das Kind verstehen, und dies errichtet eine Grundlage seine eigenen Kinder zu erziehen. Das ist der Grund, warum der Unterricht des Lehrers und seine Einstellung einen derart großen Eindruck auf seine Schüler machen kann, besonders wenn sie anstreben auch Lehrer zu werden. Ein Lehrer sollte ständig an die Konsequenzen seines Handelns denken. Er sollte keine zu enge Beziehung zu einzelnen Schülern aufbauen, genauso wie Eltern keines ihrer Kinder bevorzugen sollen. Einzelne Schüler zu verhätscheln könnte zurückschlagen, wenn der Schüler diszipliniert werden muss. Es erzeugt darüberhinaus Neid unter den Schülern und legt den Grundstein für Feindseligkeit, Politik und Trennung.
Aikido ist voller Beispiele hierfür. Wenn der Schüler fürchtet Schüler zu verlieren und sie aufsteigen lässt, um sie zu halten, so ist dies ein gefährliches Muster. Wenn diese Schüler zu immer höheren Rängen aufsteigen, ohne dies wirkliche verdient zu haben, dann sind sie immer schlechtere Schüler. Ihre Einstellung ist ein schlechtes Vorbild für die Gruppe und der Lehrer wird vor eine schwere Entscheidung gestellt, die er um seiner Schüler Willen treffen muss. Es ist einfacher einen Schüler nicht zu graduieren, der als Resultat das Aikido aufgeben wird, als abzuwarten und zu hoffen, dass die Zeit schon alles richten wird. Einen Schüler zu verlieren ist hart, besonders für einen jungen Lehrer, aber es hilft später viele ernsthafte Schüler zu haben. Ein fauler Apfel im Korb wird die anderen Äpfel anstecken; darum werfen wir sie weg, sobald wir die Fäulnis bemerken.
Aus einem streng pädagogischen Blickwinkel (dem in meinen Augen wichtigsten) kann man feststellen, dass ein Schüler, der aufgibt, weil man ihm die Graduierung versagt, das beste Anzeichen dafür ist, dass er tatsächlich nicht bereit für die Graduierung ist. Mochizuki-Sensei ist ein Ehrenmann und er behandelt einen jeden als solchen. Für ihn – wie für viele andere Lehrer seiner Klasse – bedeutet Rang: “Dies ist der Level, den ich von dir erwarte. Studiere und trainiere gewissenhaft. Wenn du es nicht tust, wird dein Grad wertlos sein und jedem wird dies offensichtlich sein.” Leider schwinden Werte wie zum Beispiel Loyalität mit der Degeneration der Ethik (selbst in Japan!), und so kann man heute Kinder sehen, die Schwarzgurte tragen. Beim Nachdenken über unsere Verantwortung zur Fortführung der Budo-Mission von Mochizuki-Sensei haben wir festgestellt, dass die Qualität des Trainings in vielen Kampfkunst-Organisationen abnimmt und die ursprüngliche Botschaft verloren geht. Wenn wir zum Beispiel annehmen, dass ein Schüler 80 Prozent behalten kann, was er von seinem Lehrer gelernt hat und er oder sie dann wiederum nur 80 Prozent an seine Schüler weitergibt, und der Schüler des Schülers wieder nur 80 Prozent behält, was werden wir dann erhalten, wenn einige Generationen vergangen sind. Eine Aktivität zur Erholung? Olympische Unterhaltung? Mit Sicherheit kein Budo.
Dies geschieht, wenn wir uns hauptsächlich mit Graduierungen beschäftigen und Organisationsdingen, statt echtes Budo zu lehren. Aus diesem Grund müssen wir uns die Lehren von Mochizuki und seinen Lehrern in unserem Geist und in unseren Handlung präsent machen. Aus diesem Grund haben wir hohe Standards etabliert. Wir graduieren nur unsere eigenen Schülern. Wir streben danach, dass die Graduierungen dem aktuellen Niveau des Schülers entsprechen. In den alten Tagen hatten in ein Dojo eintretende Schüler daheim bereits eine ethische Erziehung genossen auf dessen Moment ein Lehrer aufbauen konnte. Heutzutage muss ein Lehrer bei Null anfangen und den Schülern Werte vermitteln, die den meisten Schülern nicht mehr geläufig sind. Aus diesem Grund haben die unter unserer Führung im Yoseikan graduierten Schüler einen ernsthaften Fortschritt in Shin-Gi-Tai gemacht. Wir haben bei der Graduierung von Schülern auch Fehler gemacht, die den Eindruck gemacht hatten bereit zu sein, aber dann andere Wege gegangen sind. Aber die wahrhaft Ausdauernden wiegen dies auf. Und wir werden besser darin, die wahre Natur unserer Schüler zu erkennen.
Mochizuki-Sensei achtet darauf, dass er bei allen Prüfungen, die im Hombu-Dojo abgehalten werden, anwesend ist und jeden Schülern beobachtet. Alle Kyu- und Dan-Prüfungen müssen im Hombu-Dojo stattfinden. Shinsa (Prüfungen) finden in der Regel an einem Sonntagnachmittag statt. Alle Shihan (höhere Lehrer) und Lehrer sind anwesend und nehmen als Prüfer teil. Auch Schülern aus abgelegenen Regionen macht es nichts aus, die Reise auf sich zu nehmen, um von Kancho-Sensei geprüft zu werden. Sie betrachten dies als Teil ihres Shugyo (strenges Training). Nach der Prüfung wurde eine kleine Unterrichtseinheit abgehalten, während die Shihan ihre Notizen vergleichen. Dann verkündet Kancho-Sensei die Ergebnisse. Sensei hat ein exzellentes Gedächtnis und erinnert sich an Details, die nur wenige andere bemerkt hätten. Die Leistung eines jeden Schülers wird kommentiert. Von Kancho-Sensei geprüft zu werden ist von besonderem Wert. Seine Anmerkungen sind einfach und tiefsinnig. Wir könnten sie niemals vergessen. Er kann die Persönlichkeit eines Schülers daran erkennen, wie er sich bewegt.
International Yoseikan Budo Federation website
von Patrick Augé
Übersetzt von Stefan Schröder
Patrick Augé (7. Dan, Shihan des Yoshinkan Aikido) ist der technische Direktor der International Yoseikan Budo Föderation in Nordamerika. Er begann mit dem Studium der Kampfkünste 1962 als Judoka. Er lebte ab 1970 für sieben Jahren als Uchi-Deshi bei Minoru Mochizuki-Sensei. Derzeit lebt er in Los Angeles. Der folgende Artikel wurde von Patrick Augé als Antwort auf eine an ihn gerichtete Frage verfasst.
Hinterlass eine Antwort
Du musst sein Eingelogged um einen Kommentar zu hinterlassen.
Neueste Kommentare