Von sich werfen

Aus dem alten Japan wird von einem Fürsten berichtet, der Kyudo, die Kunst des Bogenschießens, meistern wollte. Deshalb suchte er den Mann auf, von dem das Gerücht ging, dass er der hervorragendste Meister des Bogenschießens von allen war. Der Meister war ein bescheidener, ein wenig in die Jahre gekommener, Mann. Sie machten einen Spaziergang auf der Wiese hinter dessen einfacher Wohnstatt, als der Fürst sich vorsichtig nach dem Können des Meisters erkundigte. Gerade als sie so in ruhigem Schritt dahingingen, kam ein krächzender Vogel hoch über ihnen herangeflogen. Sofort hatte der Meister den Bogen in seiner Hand und schoss einen Pfeil ab – ohne auch nur in die Richtung des Vogels zu sehen. Es ging so schnell wie ein Gedanke. Der Pfeil traf den Vogel mitten in der Brust, und dieser plumpste auf den Hügel nieder. Der Fürst war begeistert. Niemals zuvor hatte er eine solche Anmut, eine solche Schnelligkeit und Treffsicherheit mit dem Bogen gesehen. „Ihr müsst mein Lehrer werden!“, sagte er. Aber der Meister schüttelte den Kopf.“Nicht kann ich, der ich selbst nur ein Anfänger bin, jemanden in Kyodo unterrichten.“ So sehr der Fürst auch bat, der Meister gab nicht nach. Stattdessen sagte er schließlich. „Komm in zehn Jahren zurück – vielleicht bin ich es dann
wert, dein Lehrer zu sein.“ Mit diesem Bescheid musste der Fürst sich zufriedengeben,
und er kehrte zu seinem Hof zurück. Aber er vergaß den Meister und dessen überwältigende Vorführung nicht. Als zehn Jahre vergangen waren, suchte er ihn erneut auf. Auch dieses Mal machten sie einen Spaziergang auf der Wiese und der Fürst war voll von der Frage, wie der Meister sich in seiner Kunst wohl entwickelt haben mochte. Bald kam ein Vogel krächzend über den Himmel. Der Meister schaute nicht einmal in dessen Richtung, spannte nur die Sehne des Bogens – ohne einen Pfeil darauf zu setzen – und ließ los. Der Vogel fuhr zusammen, wie von einem Pfeil getroffen, und fiel auf den Hügel. Der Fürst wusste nicht welche Worte er für seine Bewunderung finden konnte, und erklärte, dass der Meister jetzt Schüler aufnehmen müsse.
„Nein, nein“, sagte der Meister. „Ich bin immer noch nicht mehr als ein Anfänger.“Wie eindringlich der Fürst auch bat, er musste sich mit einer erneuten Zehnjahresfrist zufriedengeben. „Vielleicht bin ich es dann würdig“, sagte der Meister. Und die Jahre vergingen. Nun geschah es so, dass das Reich nach einigen Jahren Unruhen einen neuen Herrscher bekam, und der alte Fürst von seinem Thron gestoßen wurde. Er kam mit dem Leben davon, aber er verlor all seine Macht und sein Eigentum. Er bewegte sich auf den Straßen inmitten seiner früheren Untertanen und lebte in Armut. Als er eines Tages auf den Straßen der Stadt herumging, erblickte er eine große Menschenansammlung. Viele Menschen drängten sich um einen alten Mann, so konnte er sehen, und sie hörten andächtig auf das, was der Alte zu sagen hatte. Als es dem Fürsten gelungen war, sich durch die Menge nach vorne zu drängen, erkannte er in dem alten Mann den Meister des Bogenschießens wieder, und er grüßte ihn mit großer Freude. „Meister“, sagte er demütig, „wie weit seid Ihr mit Eurer Kunst in all diesen Jahren gekommen? Welches Wunder vermögt Ihr jetzt mit Eurem Pfeil und Bogen?“ Der Meister sah ihn mit verwunderter Miene an und fragte: „Was ist Pfeil? Was ist Bogen?“ In den japanischen Kampfkünsten ist es eine bekannte Weisheit, dass man seine Fortschritte von sich werfen muss, um zu neuen zu gelangen. Wem es gelingt, einmal etwas Großes zustande zu bringen, und der dann nicht davon lassen kann, der es nicht vergessen kann, in dem ist kein Platz für Neues. Das
Können wird so leicht ein Gefängnis, in dem die Eitelkeit ein achtsamer Wächter ist. Wenn man zu einer Geschicklichkeit gelangt ist, die so groß ist, dass man auf sie Stolz empfinden kann,
so wird es schwer weiterzugehen. Das Können ist ein Vermögen, so lockend und so verführerisch wie Gold. Wenn man sich an jede Fertigkeit klammert, so wird man schnell so schwer belastet,
dass die Beine nachgeben und keinen einzigen Schritt mehr zustandebringen. Man spricht in Japan von der vollen Teeschale. Man kann dem, der seine Schale schon bis zum Rand gefüllt hat, keinen weiteren Tropfen einschenken. So viel man auch gießt, es fließt nur über. Wer etwas aufnehmen will, muss sich zuerst leeren, wer etwas lernen will, muss zuerst vergessen. Wir stellen uns gewöhnlich vor, dass der, welcher seinen Geist andauernd leert, seine Erkenntnis nie erweitert und immer dumm und unkundig bleibt. Eher streben viele danach, ihr Gefäß
zu erweitern, so dass es noch mehr aufnehmen kann. Aber das Gefäß hat sein vorgegebenes Volumen, und es gibt eine absolute Grenze für das, was es aufnehmen kann. Da muss man es wagen, seine Kenntnisse von sich zu werfen, um etwas Neues zu lernen. Die Angst davor, das zu tun, gründet in der Unwissenheit über den Unterscheid zwischen Können und Verstehen. Namen von Dingen, Maße und Gewichte, Zeitpunkte, all das erfordert Platz in unserem Kopf, damit es bei uns bleibt. Ebenso erfordert es Zeit in Form von Übung und Wiederholung, damit es uns nicht trotz allem entschlüpft. Aber das Verstehen besetzt keinen Platz. Was man einmal verstanden hat kann einem nicht entfliehen, und es nimmt doch keinen Platz im Kopf ein.
Das Wissen an sich ist etwas Totes und Versteinertes. Wenn Wissen zum Verstehen führt, so erfährt es Leben und Bedeutung. Es ist auch in diesem Augenblick, dass das Wissen ausgedient hat und genauso gut verkümmern kann – so wie es natürlicherweise will.In der Mathematik, einer Wissenschaft mit zahlreichen trotz ihres hohen Alters unveränderten Einsichten, kann keine Aufgabe als gelöst angesehen werden, bevor die Richtigkeit der Lösung bewiesen wurde. Es reicht nicht, dass der Schüler auf eine Formel in der Formelsammlung deutet und glaubt, dass sie richtig sein muss, weil sie da steht – er muss sie selbst beweisen können. Deshalb
ist die Mathematik eine vitale und frische Wissenschaft, obwohl sie vielleicht die allerälteste ist. Jeder neue Mathematiker kann alle ihre Thesen und Schlussätze den ganzen Weg zurück bis
zu ihrem logischen Fundament verfolgen, das nichts anderes ist als das logische Fundament des Menschen. Da die Mathematik bis zu ihrer Entstehung zurückverfolgt werden kann, kann sie
auch, wann immer, von wem immer sie ausgeübt wird, von Grund auf wiedererschaffen werden. Wer hat da Angst davor, Wissen von sich zu werfen? Wissen mag einer Konversation einen interessanten, imponierenden Einschlag geben, aber seiner Natur nach ist es eine Belastung.
Es ist eine schwere Last, die man von sich wirft, sobald man das Ziel der Reise erreicht hat. Wissen ist nur der Brennstoff, der Rohstoff, der zum Verstehen führen soll. Wenn das erreicht
ist, gibt es keinen Grund, am Wissen festzuhalten. In der Tat kann es – auch wenn es die Schale nicht ganz bis zum Rand füllt – ein Hindernis sein. Ich ging in die Grundstufe, als wir ziemlich vorsichtig begannen, mit dem Fach Chemie bekannt zu werden. Wir lösten Zuckerstücke in kaltem und dann in warmem Wasser auf, und andere einfachere Dinge. Unsere Lehrerin erklärte die Prozesse auf die notdürftige Weise, die wir verstehen konnten. Als wir schließlich in die Mittelstufe kamen, erklärte unser Chemielehrer in seinem ersten Zusammentreffen mit uns:
„Vergesst alles, was ihr in der Grundstufe gelernt habt!“Wir durften von vorne anfangen, mit dem periodischen System, mit Atomen und Molekülen, und wie das alles heißt. Bis zur
Oberstufe hatten wir einiges auswendigzulernen, und da begrüßte uns der neue Chemielehrer mit den Worten: „Vergesst alles, was ihr in der Mittelstufe gelernt habt!“
Wir durften wieder völlig von vorne anfangen. Ich fühlte mich danach nicht so geneigt, Chemie auf der Universität zu versuchen. In jedem Abschnitt hatten wir Chemie mit Hilfe von Vereinfachungen gelernt – um uns die komplizierte Wissenschaft zugute zu führen. Wir brauchten diese Vereinfachungen, um schrittweise zu einem umfassenderen Verständnis von Chemie zu gelangen, das die fortgeschritteneren Thesen für uns begreiflich machen
sollte. Sicher wäre es schneller gegangen, sich direkt auf die äußersten Einsichten und jüngsten Errungenschaften der Chemie zu stürzen, wenn uns das möglich gewesen wäre. Das war es aber
nicht. Die Vereinfachungen dienten uns als verständliche Etappen, aber wenn wir am früheren Wissen festgehalten hätten, so hätte unser Verständnis sich niemals auch nur einen Dezimeter
vertieft. Es war notwendig, dieses von uns zu werfen. Obwohl das Wissen auf seine Weise, in seiner Phase, richtig war, war es aus der Perspektive der neuen Phasen nichts als eine Fälschung. So funktioniert also auch Aikido, wenn auch nicht immer genauso deutlich. Wer nicht das Können von vorhergehenden Phasen von sich werfen kann, versucht höhere Einsichten auf
falschem Grund zu bauen. Das geht nicht.Man soll in seinem Lernprozess immer auf das Verständnis zielen und das Wissen versickern lassen, wenn es auf natürliche Weise danach strebt. Warum seine grauen Zellen so anstrengen wie die Oberarme beim Faustdrücken, anstatt sich zu entspannen und das Wissen Nutzen wirken zu lassen, bis es von selbst verfliegt?
Man muss darauf vertrauen, dass das Gehirn das Wesentliche behalten wird. Man behält die Formel und wirft das Beispiel von sich. Im Aikido lernt der Anfänger, völlig aufmerksam auf seinen Körper zu achten, auf alle kleinen Details der Technik. Diese werden durch ständige Wiederholung im Training verfeinert, der kleinste Fehler wird verbessert. Bei all diesen Scherereien mit der kleinen Perspektive ist der Anfänger oft dessen unbewusst, was im
großen Ganzen passiert. Während er die immergleichen Grundtechniken eins ums andere Mal übt, macht sich sein Körper und seine Sinne immer mehr auf natürliche Weise und unumstößlich
die wirklichen Gründe des Aikido zueigen. Die Haltung, die Atmung, der Fluss von Energie und die erweitete Aufmerksamheit – all das kommt unmerklich durch das Training zu ihm und
wird ein selbstverständlicher Teil seines Wesens. Und das ist der Kern des Aikido. Seine Bewegungen bekommen ein Zentrum und einen Fluss, seine Sinne werden offener und klarer – während sein Gehirn mit all diesen Grundtechniken beschäftigt ist.Deshalb muss er, wenn er in seinem Wesen mit dem Kern aller Techniken vertraut worden ist, diese von sich werfen. Er
muss sie vergessen, weil sie jetzt in ihm sind. Wenn er eine Aikidotechnik benötigt, kann er sie unmittelbar neu erschaffen. In modernen naturwissenschaftlichen Termen kann man sagen
dass sein Aikido vom bewussten Denken, irgendwo in den Gehirnwindungen, sich in die Reflexe des verlängerten Rückenmarks hinein verlagerte. Die Bewegungen beanspruchen keine
Bewusstheit mehr, sie gehen per Reflex. Der entspannte Geist agiert augenblicklich in einer Situation, auf die dafür geeignete Weise. Man wirft sein Wissen fort und vertraut darauf, dass das eigene Innere und der eigene Körper wissen was getan werden soll, und dass sie es dann richtig tun. Da hat man ein wirkliches Koennen erreicht.Das ist der Weg des Aikido zum Verstehen, und er gilt für alle Budoarten. Nur wer wagt zu vergessen wird lernen, und je
mehr man hinter sich zu lassen wagt, desto mehr wird man finden.
Von Stefan Stenudd
Aus: Aikido – Die friedliche Kampfkunst

Share

Hinterlass eine Antwort