In Japan weiß es jeder: Auf Yakushima lebt das Schneewittchen des Ostens. Einfach zauberhaft.
Märchenwälder, wie man sie von den Gebrüdern Grimm kennt, gibt es kaum noch in Europa: mystisch verwachsen, mit uralten Bäumen, wabernden Bodennebeln, von Wurzeln überwucherten Wegen und Teichen, über denen Schmetterlinge flattern, groß wie Untertassen.
In Japan schon, genauer gesagt auf der Insel Yakushima, einem grünen Klops, der unter dem südlichen Zipfel Japans im Meer liegt. Die verwunschenen Wälder, die fast die ganze Insel bedecken, kennt in Japan jeder, weil sie als Vorlage für einen der berühmtesten Zeichentrick-Märchenfilme Japans dienten: Prinzessin Mononoke. Diese Prinzessin ist nicht ganz so alt wie Aschenputtel oder Schneewittchen, aber in Japan ebenso berühmt. Erfunden hat die Geschichte der Gott unter den japanischen Zeichentrickfilmern, der Regisseur Hayao Miyazaki. In seinen Filmen sausen Figuren mit großen schwarz schillernden Augen durch bunte Landschaften. Animierte Zeichentrickfilme zeigen die Seele Japans: wie Märchen erzählt, aber voller historischer, mythologischer und religiöser Anspielungen, tiefgründig, komplex, manchmal sehr gewalttätig und oft nichts für Kinder. In Japan sind diese Filme so beliebt, dass Prinzessin Mononoke hier mehr Geld eingespielt hat als Titanic, der weltweit erfolgreichste Hollywoodfilm.
Wer wissen will, wie Japan tickt, fährt nach Yakushima: Dort strömen die Japaner hin, um das Waldreich ihrer Prinzessin zu besuchen. Das Märchen erzählt von einem Mädchen, das von Wölfen aufgezogen wird. Aber ach, eines Tages ist ihr Reich in Gefahr! Die Arbeiter einer Eisenhütte wollen den Wald ausbeuten und den mächtigen Waldgott töten: ein Wesen, das an einen Hirsch erinnert. Gelingt es ihr, ihren Wald zu retten? Zum Glück trifft sie auf einen Krieger, mit dessen Hilfe sie die Katastrophe abwenden kann. Die Menschen, die heute durch den Mononoke-Wald (er heißt inzwischen wie das Märchen) wandern und sich mit Handschuhen an glitschigen Baumstämmen festhalten, wollen ganz genau wissen, an welchem Teich der Waldgott wohnt. Und weil sich die niedlichen Baumgeister im Film nur zeigen, wenn der Wald gesund ist, wandern alle ganz vorsichtig durchs Unterholz, um nur kein Mooskissen zu zertreten.
Hier gibt die Natur alles: Banyanbäume werfen ihre Luftwurzeln wie riesige Flechtzöpfe in die Höhe. Jede Pflanze bewächst irgendetwas und wird von irgendetwas überwuchert. Moos hüllt alles samtig weich ein. Im Film ruft eine der Märchenfiguren: »Oh Gott, dieser Wald ist so dicht, ein Platz für Götter und Dämonen!« Man kann nicht anders, als ihr beizupflichten.
Den üppigen Wald verdankt die Insel ihrem einzigartigen Klima. Von Weitem sieht das bergige Yakushima aus wie ein überdimensionierter Baseballhandschuh, der alle Wolken der Gegend festhält und zum Abregnen zwingt. Der Volksmund sagt, in Yakushima regne es 35 Tage im Monat. So wurde die Insel zu einem einzigen riesigen botanischen Garten. Weil es so viel regnet, liegen an den weißen Stränden auch kaum Menschen im Sand, dafür viele dicke Schildkröteneier.
Vor ihrem Ruhm als Märcheninsel war Yakushima nur unter Naturliebhabern bekannt; vor allem wegen ihrer tausendjährigen Zedern. Sie knarren im Wind und sehen so verknöchert aus, als hätte sie sich ein sehr begabter Kulissenbauer ausgedacht. Es gibt Hunderte davon auf der Insel; die älteste, ein Riese mit einem Stammumfang von 16 Metern, soll mehr als 7000 Jahre alt sein. Wer sie sehen will, muss elf Stunden Wanderzeit einrechnen. Seit 1993 zählen die Bäume zum Weltnaturerbe der UNESCO und sind damit ebenso geschützt wie die Galápagosinseln oder die Niagarafälle.
Auf den Wanderungen durch die Wälder begegnet man Affen, Wild und vielen Studenten, die Pflanzen abzeichnen. An der Küste stehen ein paar Gästehäuser und Hotels, ein Leuchtturm, kaum Restaurants oder Bars. Abends kann man in heiße Quellen eintauchen, die in Japan Onsen heißen. Alles auf der Insel dreht sich um die Kräfte der Natur. Die Bewohner blicken oft auf die Wetteranzeigen ihrer Mobiltelefone, ob gerade ein Taifun in Anmarsch ist. Aber auch dann hören sie nicht auf zu lächeln – es gab ja schon dreißig in diesem Jahr.
Es ist ein stilles Japan hier, ein andächtiges, das zeigen auch die vielen kleine Schreine, die von den Inselbewohnern an den Füßen der Bäume für ihre Baum- und Berggottheiten aufgestellt und mit Salz, Reis und anderen Opfergaben bedacht wurden. Die Schönheit dieser Insel, ihre unberührte Natur bergen eine stille Mahnung in sich. Der Sprecher des Informationsfilms, den man im örtlichen Museum ansehen kann, wird deutlicher: »Bitte überlegen Sie sich während Ihres Aufenthalts auf Yakushima, was Sie für diese Insel tun können«, sagt die dunkle Stimme fordernd, »und was für die ganze Welt«.
Von Kerstin Greiner Olivier Kugler (Illustration)
Hinterlass eine Antwort
Du musst sein Eingelogged um einen Kommentar zu hinterlassen.
Neueste Kommentare