Die spinnen, die Japaner

Niemand bringt so viele kitschige, verspielte, geniale, überflüssige, fantastische, schwachsinnige, weltbewegende Hightech-Innovationen zustande wie die Japaner
Verehrung für den Tenno, Bewunderung für einen perfekt angelegten Kimono, Eifer und Demut bei der Unterweisung in der Kunst der japanischen Teezeremonie – einerseits. Aber gleichzeitig dieser kreischbegeisterte Ernst, mit dem sich ganz Japan den schrillsten, absurdesten technischen Tinnef an die Brust drückt. Auch für unerschrockene Japankenner aus Europa ist es nicht immer ganz einfach, die Fassung zu bewahren. Ein besonders exklusives Beispiel dafür ist etwa der vor 1200 Jahren erbaute Daigo-Tempel in Kioto. Er ist nur zwei oder drei Mal im Jahr für wenige Auserwählte zugänglich – bei einem buddhistischen Festmahl in der Halle des Sanboin Omote-Shoin. Die Stätte ist allerdings diskret modernisiert, unter anderem auch mit einem WC. Dieser Abort ist über knarzende, vermutlich einige Hundert Jahre alte Bohlen zu erreichen. Dann steht der Bedürftige vor einer schlichten, historisch-rustikalen Holztür. Er öffnet – und betritt mit einem Zeitsprung ein Science-Fiction-mäßiges Hightech-Hygienelabor. Selbsttätig lupft als Erstes das Toilettenbecken für den ehrenwerten Gast seinen Deckel. Die Sitzbrille wärmt unverzüglich die Auflagefläche vor – was selbst im Winter trotz fehlender klösterlicher Zentralheizung kein Schaudern aufkommen lässt. Eine ventilierende Saugvorrichtung zieht Gerüche, Abgase, Verdauungsaromen ab und gibt sie gereinigt und parfümiert wieder in die Raumluft zurück. Das Toilettenpapier ist in dieser Entsorgungsmaschine durch einen wohlgezielten, selbstverständlich präzis temperierten Wasserstrahl ersetzt. Ist der überstanden, wird er abgelöst von dem Säuseln eines angenehm wärmenden Trocknungsföns. Zum Abschied folgt eine toilettenübliche Verbeugung: Die Bio-Restmüll-Entsorgungsstation quittiert Erhalt und kanaltechnische Verdauung der Ladung mit dem Deckel – der sich schließt. Dann erst ist das Rauschen der Spülung zu vernehmen. Wenn die Mönche nicht ausdrücklich die spartanischste Variante bestellt hätten, wäre auch noch ein musikalischer Abgesang möglich gewesen oder – in einer inzwischen von der Firma Panasonic verbesserten Ausführung – die Selbstreinigung von Sitzfläche und Beckeninnenformen.

Die Verwandlung des Aborts in einen Toilettenroboter ist eins der besten Beispiele, die Japan, den japanischen Fortschritt und die technische Verspieltheit der Japaner erklären. Kein Land hat die Welt mit einer derartigen Flut von nützlichen oder auch fragwürdigen bis lächerlichen Produkten überschwemmt wie Japan. Bei Digitalkameras beherrschen die Japaner von Anfang an bis heute den Markt, und als vor ungefähr sechs Jahren in Europa noch die Letzten damit beschäftigt waren, den Umstieg von der Wählscheibe auf die Telefontastatur zu begreifen, die Mehrheit aber fasziniert auf kleine schwarz-weiße Handydisplays starrte, waren in Japan bereits Farbdisplays Standard, mit denen die Japaner schon durch die Weiten ihres mobilen Internets browsten.

Zwar haben die Amerikaner inzwischen mit dem iPhone von Apple beinahe zu den Japanern aufgeschlossen – aber eben nur fast. Die meisten japanischen Geräte sind in ihrer Ausstattung dem iPhone immer noch überlegen. Digital-TV, GPS-Ortsbestimmung, Texterkennungssoftware, Geldkartenfunktion sind Standard. Einige Modelle zeichnen bereits High-Definition-Videos auf oder haben das gesamte Tastatur-Areal in ein Touchpad verwandelt. Die neueste Generation von Sharps Handys für den Mobilnetzbetreiber AU trumpft nicht nur entweder mit Solarzelle oder einer Zwölf-Megapixel-Kamera auf, sondern auch mit einer Fülle von Applikationen wie dem „Körpermanager“ – inklusive Körperfettmessung.

Die Weißbuch- und Standardfragen deutscher Entwickler, ob eine Neuerung nützlich, notwendig sowie gesellschaftlich, umwelttechnisch relevant oder überhaupt politisch korrekt ist, stellen sich in Japan nicht. So krass die sozialen Benimmvorschriften der japanischen Gesellschaft sind – der Gedankenspielraum der Entwickler ist das All, japanische Ingenieure sind unbegrenzt frei. Die japanische Innovationsphilosophie lautet: Hauptsache, viele Ideen in der Luft, auch die plumpen, abwegigen, skurrilen, absurden. Eine wird schon fliegen.

Eines der lehrreichsten Beispiele ist das legendäre elektronische Küken Tamagotchi, das in den 90er-Jahren durch die Welt eierte. Nach dem virtuellen Schlüpfen wollte das digitale Wesen gefüttert und gehätschelt werden. Wer es vernachlässigte, dem starb das Küken unter den Händen weg. Die Technik hinter der Idee war dabei so simpel, dass sie überall auf der Welt hätte entwickelt werden können – auch in Deutschland. Aber wahrscheinlich hätte sich kein deutscher Ingenieur um eine solche Albernheit kümmern wollen. Was ist also Hightech? Auf Deutsch bedeutet es ernst, erwachsen zu sein, und meistens braucht man einen Führerschein dafür. Einem Japaner reicht’s, wenn es anderen Japanern gefällt.

Wie viele große Firmen wird auch der für seine Taschenrechner und stoßfesten Quarzuhren bekannte Elektronikhersteller Casio von einem hochbetagten Herrn geleitet. Casios Chef Kazuo Kashio ist 81 Jahre alt. Doch wie bei allen übrigen erfolgreichen Unternehmen in Japan liegt die Entwicklung neuer Ideen meist beim blutjungen Personal – wie etwa der erst 24-jährigen Yuko Nakazawa. Sie arbeitete einmal als Handy-Verkäuferin, hatte dann aber die Idee zu dem Handy-Fotoprogramm Bidori (Schöner Fotografieren). Das Programm unterzieht bei Porträtaufnahmen die Gesichter der Porträtierten bereits im Handy einer vollautomatischen Schönheitsoperation. Das digitale Botox verwischt Falten und Pickel, verkleinert Kinn und Nase und vergrößert die Augen, um die Vorlage – allerdings kaum merklich – an das Manga-Comic-Schönheitsideal vom rehäugigen Mädchen anzupassen. Sie habe übrigens immer die männlichen Entwickler bremsen müssen, sagt Nakazawa. Die hätten die Bilder gern noch ein bisschen stärker mangaisiert.

Vor allem aber stürzt sich die hoch verspielte bis kitschige japanische Innovationsindustrie auf exportfähige Hightech-Produkte – und das ist im japanischen Alltag zu merken. Nach vielem, was weniger Hightech und minder zugespitzt, dafür aber praktisch ist, kräht in Japan kein Hahn. Das schräge Ergebnis ist am besten im „ökologischen“ Hausbau zu beobachten. Häuser in Japan sind für deutsche Verhältnisse extrem schlecht gedämmt. Die Wände können Kalt und Warm so gut wie nicht auseinanderhalten, und das meistverwandte Standardfenster hat einen dünnen Aluminiumrahmen, der eine einfache Glasscheibe so locker fasst, dass sie wackelt, wenn der Wind durch die Fugen pfeift. Klimaschutz gilt in Japan als Gerede. Auch Zentralheizungen gibt es nicht. Stattdessen heizt ganz Japan entweder traditionell nur den Raum unter dem Kotatsu, einem kniehohen Tisch, bei dem Decken die Hitze unter der Platte halten. Dort steht eine kleine elektrische Heizschlange, die die Tisch- wie die übrigen Beine wärmt. Oder die Benzinöfen. Sie geben Wärme und Abgase gleichzeitig in die Wohnung ab. Neuerdings kommen aber immer mehr heizfähige Klimaanlagen in Mode, die in den feuchtheißen Sommern nicht nur die Wohnungen, sondern wegen der schlechten Dämmung auch die Umgebung kühlen.

Vor Kurzem jedoch hat Japan das Nullemissionshaus entdeckt – aber eben auf japanische Art, nach dem Leitmotiv Fortschritt durch Hightech. Es erscheint in Japan absurd, dass gut eingepackte, ordentlich gedämmte Häuser den besten Erfolg erwirtschaften könnten. Vielmehr geht Japan daran, Solarzellen auf seine zugig-ausgekühlten Häuser zu schrauben, Lithium-Ionen-Akkus als Zwischenspeicher in den Garten zu stellen und den Kauf energieeffizienter Haushaltsgeräte zu fördern.

Das klingt nach Schilda. Aber deutscher Hochmut über japanische Rückständigkeit ist schnell zu Fall gebracht. Wenn Japans Konzerne sich ein Innovationsziel gesteckt haben, wird das Tempo rasant. Hin und wieder schießen sie sogar an vorausgeeilten Konkurrenten vorbei. Bei Elektroautos etwa und vor allem bei selbst fahrenden Wagen könnte sich das erneut erweisen. Japanische Hersteller haben als erste neue Fahrassistenten eingesetzt – Toyota etwa den Einparkautomaten. Nissan hat ein widerspenstiges Gaspedal eingeführt, das Öko-Pedal. Es drückt bei starker Beschleunigung erzieherisch gegen den Bleifuß. Aber damit nimmt alles erst seinen Anfang, weil kein Japaner in seiner Technikbegeisterung Bedenken hat, das Auto selber ins Lenkrad greifen zu lassen.

Vor acht Jahren noch quirlte Japan die schmutzige Wäsche wie zu Großmutters Zeiten in oben offenen, elektrisch gemütlich von sich hinkreisenden Waschbottichen. Dann fasste Panasonic 2003 den Entschluss, zur Weltspitze aufzuschließen. Bereits 2009, nur sechs Jahre nach der Einführung von Japans erster selbst entwickelter vollautomatischer Trommelwaschmaschine, schickte der Konzern seine Produkte in Deutschland selbstbewusst gegen Miele ins Feld.

Mit Kopien geben sich die Japaner dabei nicht mehr zufrieden. Die Waschmaschine wurde mit einer leicht geneigten Trommel ausgestattet, um a) den Wasserverbrauch weiter zu senken und b) das Be- und Entladen zu erleichtern. Seither folgt eine Weltpremiere nach der anderen: Trocknung durch Wärmepumpe statt Heißluft, Hochdruckwassereinspritzung zur Steigerung der Waschkraft.

Der neueste Kühlschrank, ausgestattet mit diversen Sensoren, analysiert selbsttätig den Lebensrhythmus seines Dienstherrn und passt die Kühlleistung Strom sparend an. Klimaanlagen können Menschen erkennen. Sie lenken dann den Luftstrom auf sie. Sogar Bügeleisen sind nicht vor Neuerfindung sicher. Panasonic hat ein Dampfbügeleisen entwickelt, das nicht mehr nur einen Bug und ein gerade abgeschnittenes Heck hat, sondern zwei Spitzen. Dies vergrößere die Dampfbügelfläche um 80 Prozent und verkürze damit die Bügelzeit um ein Fünftel, behaupten die Entwickler.

Besonders hoch werfen die Japaner ihre Ideen beim Thema Roboter in die Luft. Rund 70 Forschungsinstitute und Firmen widmen sich der Entwicklung. Hondas Humanoid Asimo ist inzwischen schon weltberühmt. Auch sind Großkonzerne wie Toyota, Honda und Panasonic mittlerweile in die Entwicklung von Robotertechnik eingestiegen. Im Geheimen werkeln sie an der ersten Welle kommerzieller Helfer. Dabei wird es sich noch nicht um menschenähnliche, automatisierte Gestalten handeln, sondern um robotisierte Maschinen, die vor allem älteren Menschen länger ein eigenständiges Leben ermöglichen sollen. So hat eine große japanische Elektronikfirma ein Roboterbett auf den Markt gebracht, das sich auf Zuruf in einen Rollstuhl verwandelt. Bettlägerige Menschen können sich damit ohne fremde Hilfe bewegen.

Wie nah der Sprung des Kollegen Maschine aus den Fabriken in den Alltag gerückt ist, demonstriert der Industrieroboterhersteller Yaskawa. Auf Messen lässt das Unternehmen seinen zweiarmigen Montageroboter Motoman spaßeshalber mit Lego spielen oder Pfannkuchen braten. Außerdem hat die Firma einen Ro-Butler entwickelt, der Getränke aus dem Kühlschrank holen und mit einer formvollendeten Verbeugung servieren kann. Und Japans National Institute of Advanced Industrial Science and Technology macht sogar schon Kate Moss Konkurrenz – mit einem Fashion-Model-Roboter.

Von Martin Kölling
Aus: Welt Online

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