Ein echter Tokioter friert doch nicht

Für ausländische Neuankömmlinge ist Tokio eine Stadt der angenehmen Überraschungen. Die japanische Hauptstadt ist gepflegt und sauber. Mit U- und S-Bahnen, die von weiß behandschuhten Fahrern geführt werden, kommt man pünktlich überall hin. Die Menschen sind höflich und rücksichtsvoll. Man spricht leise. Die Verkäuferin bringt die gekaufte Ware bis vor die Ladentür und überreicht sie mit einer Verbeugung. Im 24-Stunden-Laden kann man auch nachts die Stromrechnung bezahlen oder ein leckeres Fertiggericht kaufen. Die täglich gelieferte Zeitung ist bei Regenwetter in Plastik eingeschweißt. Das eine Stück Erdbeerkuchen aus dem Café wird dreifach verpackt in einem Schmuckkarton übergeben.Die böse Überraschung kommt mit dem ersten Winter. Es wird kühl, draußen und in der Behausung, aber wo ist die Heizung? Darauf hatte man bei der Wohnungssuche in der warmen Jahreszeit nicht geachtet. Die Wohnung hat keine Zentralheizung. Der Vermieter verweist auf die Klimaanlage, die ja nach Bedarf auch warme Luft in den Raum blasen könnte, zeigt sich aber überfragt und befremdet, als man auf den breiten Spalt unter den Türen hinweist und den kalten Durchzug. Eine schnelle Umfrage ergibt, dass das Fehlen der Zentralheizung nicht ein Baufehler, eine Sparmaßnahme oder eine Ausnahme darstellt. Die meisten Wohnhäuser in der Metropolis Tokio-Yokohama mit ihren 35 Millionen Einwohnern haben keine eingebaute Heizung, bei Tiefsttemperaturen von null bis minus zwei Grad im Winter. Warum, so fragt sich der verkühlte Mitteleuropäer, gibt es im reichen Japan, dem Land der Technik und der Erfindungen, keine Zentralheizung? Warum frieren die Tokioter in den Wintermonaten? Oder frieren sie etwa nicht? „In Tokio wird es nicht kalt“, sagt die japanische Freundin, während sie sich fröstelnd einen dicken Schal um den Hals wickelt und die Daunenjacke zuknöpft. Das Argument will nicht recht überzeugen. Zwar geht es in Tokio selten in die Minusgrade, und Schnee fällt fast nie, doch auch bei Außentemperaturen von null bis fünf Grad sind die Wohnungen und Häuser empfindlich kalt. Gemütlich ist das nicht.

„Der Winter ist kurz“

„Im Norden, in Hokkaido, sind die Häuser geheizt“, ist eine andere Antwort auf die Frage nach der Heizung, die immerhin impliziert, dass eine Heizung im Winter etwas Positives ist, und dass Japan ein zivilisiertes Land ist, das seine Bürger in den schneereichen Bergen und auf der nördlichen Insel nicht frieren lässt. Es gebe in den Bergregionen Gas- und Kerosinöfen und andere Heizungen, die die Häuser gemütlich machen, versichern Tokioter, und in ihrer Darstellung schwingt, wenn man genau hin hört, auch etwas Neid mit.

„Der Winter ist kurz“ – auch diese Erklärung will nicht ganz einleuchten. Denn schließlich dauert die kalte Jahreszeit in Tokio von Dezember bis März und lässt sich durchaus als Winter definieren. „Wenn die Sonne auf die Fenster scheint, wird es schnell warm im Zimmer.“ Das stimmt, Tokio hat einen sonnigen Winter, doch funktioniert diese „Solarheizung“ natürlich nur bei den der Sonne zugewandten Räumen, und sobald die Sonne untergegangen ist, werden auch die angestrahlten Zimmer gleich kühl. Während die einen darauf bestehen, dass eine Zentralheizung eigentlich nicht nötig ist, vermuten andere, dass ein Heizungsbau in den Millionen kleiner Häuser und Wohnblocks von Tokio und Yokohama nicht möglich ist. „Es liegt an den Erdbeben“, sagt ein zugereister Ingenieur. Weil die Häuser aus Holz sind und nur für eine Lebensdauer von etwa 20 Jahren gedacht sind, lohne sich der Heizungseinbau nicht.

Dafür ist es eben im Sommer heiß

„Die Sommer sind heiß“, ist eine andere Auskunft, mit der begründet wird, dass Häuser nicht wärmeisoliert werden und so gebaut sind, dass sie schnell auskühlen. Die traditionelle Devise japanischer Architekten sei schon immer gewesen, ein Haus mit Hinblick auf die heißen und schwülen Sommer zu bauen. Deswegen legt man Wert auf gute Durchlüftung, die im Winter aber verhindert, dass die Wärme in den Häusern bleibt. Wenn man die Häuser besser isolieren würde, so heißt es, führe das in den feuchten Sommern zu Schimmelbildung.

Dass die technikbegeisterten Japaner noch nicht auf bessere Wärmelösungen gekommen sind, erstaunt. Vielleicht sind Japaner einfach nicht so kälteempfindlich wie heizungsverwöhnte Mitteleuropäer? Die Schuluniform japanischer Kinder schreibt auch im Winter kurze Faltenröckchen und Kniestrümpfe für Mädchen und kurze Hosen für Jungen vor. Könnte es vielleicht sein, dass dieses frühe Training die Tokioter so abhärtet, dass sie als Erwachsene nicht mehr frieren? Doch allein ein Blick in die Auslagen der Elektro- und Haushaltsgeschäfte im Winter zeigt, dass auch Japaner die Kälte in ihren Räumen spüren. Es gibt elektrische Heizstrahler und Ölradiatoren in allen Varianten und Größen. Heizdecken, Heizkissen, geheizte Fußablagen werden angeboten. Dick gefütterte Hausschuhe werden mit der Werbung „Spart Strom“ angepriesen. Fürs Haus gibt es Handschuhe ohne Finger, für die Nacht wattierte Bettjäckchen und Schlafanzüge aus Flanell, heizbare Laken und Wärmflaschen aus Plastik, die hart sind und Ähnlichkeit mit einer Bettpfanne haben. Läden bieten Isoliervorhänge für die Fenster und heizbare Sitzauflagen an. Gitter für das Bett sind zu erstehen, damit nachts nicht die Decke wegrutscht und den Schlafenden der Kälte aussetzt. Im kalten Badezimmer hilft der beheizbare Toilettensitz. Spezielle Heizlampen verhindern das Zufrieren der Fenster, und auch der geheizte Hundekorb fehlt nicht im Angebot.

Wärmepflaster und Kerosinöfen

Die wichtigste traditionelle japanische Winterheizung ist der Kotatsu, ein niedriger Tisch, unter dem eine Elektroheizung angebracht ist. Über dem Tisch liegt eine bis auf den Boden reichende dicke Decke, die die Wärme hält. Hier, so wird versichert, sitze man sehr gemütlich den Winter über, Beine und Unterleib unter der Decke und unter dem Tisch, das reiche schon aus. Doch der Kotatsu passt nicht mehr zu den modernen Lebensgewohnheiten. Er macht unbeweglich, und die Familie sitzt auch nicht mehr um den Tisch herum, sondern vor dem Fernsehgerät. Dem Zugereisten wird klar, warum die Japaner ihre heißen Bäder lieben. Selbst kleinste Wohnungen sind mit einer Badewanne ausgestattet, in der man sich aufwärmen kann, und auch die Vorliebe für die heißen Quellen und Badehäuser könnte durchaus damit zu tun haben, dass die Wohnung im Winter nie richtig warm wird.

Wenn man es im Haus warm haben will im Winter, schnellt die Stromrechnung nach oben. Das veranlasst viele zum Rückgriff auf Kerosinöfen, die zwar schnell wärmen, doch wegen ihrer Abgase und der Feuergefahr nicht unumstritten sind. Dass die punktuelle Heizung vor allem mit Strom nicht nur teuer, sondern dank der schlecht isolierten Häuser nicht sehr wirkungsvoll ist, wird im Zeitalter des Klimawandels jetzt als Problem gesehen. Manch neue Häuser werden mit Fußbodenheizung in einem Zimmer ausgestattet. Die Regierung mit ihrer neuen Umweltpolitik gibt Zuschüsse für doppelt verglaste Fenster. Bis diese Neuerungen sich durchsetzen, gilt weiter die japanische Devise des Durchhaltens. Wer trotzdem friert, kann sich mit den beliebten auf den Körper zu klebenden „Wärmepflastern“ behelfen.
Von Petra Kolonko, Tokio
Aus:faz.net

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