Feierabend für Frau Kishimoto Teil.1

Japaner haben mehr Urlaub als Deutsche und machen länger Mittagspause. Unbezahlte Überstunden? Verboten. Was bleibt vom Klischee der Arbeitswütigen?
Was für ein seltsames kleines Land, in dem Menschen einfach entlassen werden, wenn sie nicht genug leisten, und in dem ein Arbeitgeber an einem 9-Stunden-Tag – laut Gesetz – nicht mehr als 30 Minuten Pause genehmigen muss. In dem die Fehlzeiten wegen psychischer Krankheiten in den letzten 15 Jahren um 80 Prozent gestiegen sind. Ein Land, in dem viel gearbeitet wird, für ein Durchschnittsgehalt von 3127 Euro. Dieses Deutschland. Für viele Japaner ist es ein Land, in dem sie nicht Arbeitnehmer sein wollen.

»Wirklich? Sie entlassen in Deutschland Menschen, wenn sie zu faul sind?«, fragt Hideharu Miyamoto, Senior Manager des Tokyoter Flughafens Narita. Er sitzt im 22. Stock des Tokyoter Kishimoto Building, einem der glanzvollen Bürotürme mit Blick auf die Palastgärten von Kaiser Akihito. Miyamoto übersetzt seinem Kollegen, dem Personalchef Makoto Tanabe, was er gerade Seltsames erfahren hat. Tanabe zieht die Augenbrauen hoch, als hätte er etwas Unanständiges gehört. »Das machen wir nicht! Wir haben zeit unseres 40-jährigen Bestehens niemanden entlassen! Für Unmotivierte finden wir Arbeit in einer anderen Abteilung.«

Man kann verwirrt sein in Japan. War nicht Japan das Land, in dem Menschen immer nur arbeiten, bis sie krank werden, todkrank von dem Leistungsdruck, den ihre Vorgesetzten ausüben? War nicht Deutschland das Land der Urlaubsweltmeister?

Wenn Miyamoto bei einer Tasse Oolong-Tee von seinem Arbeitsvertrag erzählt, könnten Gewerkschaftsfunktionäre hierzulande Fernweh nach Ostasien bekommen. 200.000 Yen oder 1515 Euro zahlt ihm sein Arbeitgeber jährlich für die Kita seiner Kinder. Dazu monatlich 45 Euro für die Fahrkarten der U-Bahn, 227 Euro Mietzuschuss, 80 Euro Kindergeld, 128 Euro, weil seine Frau nicht berufstätig ist. Außerdem: sechs Monate Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Und wenn Miyamoto wollte, könnte er sich mehrere Jahre beurlauben lassen, um einen kranken Verwandten zu pflegen oder Kinder unter drei Jahren zu betreuen, sein Arbeitsplatz wäre ihm vertraglich garantiert. Miyamoto nimmt niemals Arbeit mit nach Hause, sagt er und lacht, weil er den Gedanken absurd findet.

Er kommt um 9 Uhr morgens ins Büro und geht um 18 Uhr. Ungefähr einmal im Monat macht er Überstunden bis 21 Uhr, für die er 125 Prozent seines normalen Stundenlohns bekommt, denn unbezahltes Mehrarbeiten ist in Japan per Gesetz verboten. Mittagspause macht Miyamoto immer 60 Minuten lang, wie der Gesetzgeber es für einen 8-Stunden-Tag vorschreibt. »Das Essen dauert meist 15 Minuten. Danach sitzen wir und reden noch ein wenig«, sagt er. Sitzen und reden. Dem Klischee der japanischen Leistungsgesellschaft entspricht das nicht.
Was Miyamoto erzählt, klingt wie der Büroalltag eines deutschen Schalterbeamten aus den sechziger Jahren, nur dass Miyamoto kein kleiner Sachbearbeiter ist, sondern Leiter der Strategieabteilung des zweitgrößten Flughafens in Japan. Was er verdient, sagt Miyamoto nicht. Aber ob er, der lange für Japan Airlines in London gearbeitet hat, glaubt, dass sein Gehalt höher sei als das von vergleichbaren Kollegen in Europa? Hai, ja, antwortet Miyamoto und senkt höflich seinen Kopf.

»Dass sich Japaner zu Tode arbeiten, kann man heute nicht mehr sagen«, sagt Florian Coulmas. Der Soziologe ist Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokyo und schmunzelt, wenn Deutsche ihn sorgenvoll auf karoshi ansprechen, das japanische Wort für den Tod durch Überarbeitung. »Diese Zeiten sind lange vorbei. Das gab es in der Boomphase der achtziger Jahre. Heute ist die 40-Stunden-Woche die Regel, genau wie bei uns.« Tatsächlich hat sich die Arbeitszeit der Japaner dem OECD-Durchschnitt von 1766 Stunden im Jahr angeglichen. Japaner arbeiten heute 1772 Stunden und nicht mehr 2121 Stunden wie noch 1980. Deutsche arbeiten dagegen nur 1432 Stunden. Aber selbst diesen Unterschied dürfe man nicht überbewerten, meint Coulmas.

Nur weil manche Japaner länger im Büro säßen, heiße das nicht, dass sie auch automatisch mehr täten. »Gerade der Dienstleistungssektor der japanischen Wirtschaft arbeitet äußerst unproduktiv«, nicht jeder 12Stunden-Tag in Japan erkläre sich aus tatsächlicher Mehrarbeit. »Japanische Arbeitnehmer demonstrieren ihr Engagement durch lange Arbeitstage, das ist eine Frage der Kultur, nicht der realen Belastung.« Jeden Morgen zum Beispiel, wenn Direktor Coulmas sein Institut betritt, sitzt die Empfangsdame schon an ihrem Tisch, um den Chef zu begrüßen – obwohl ihre Arbeitszeit erst eine Stunde später beginnt.
Aus:Zeit.de

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