Spiegelreflex – es ist vorbei

60 Jahre lang war sie der Star, jetzt geht ihre Ära zu Ende. Die schweren Spiegel verschwinden – in den kleinen, neuen Kameras aus Japan machen sich elektronische Sucher breit

Katschak, Katschak – in der Welt der Fotografie gehört das vertraute Geräusch der Spiegelreflexkameras immer mehr der Vergangenheit an – zumindest in Asien. Eine neue Kameragattung – witzelnd gerne „das Böse“ genannt – lehrt die Hersteller von Spiegelreflexkameras das Fürchten. Es ist die lange von Fachleuten und Fotofans gleichermaßen ersehnte wie verteufelte „Evil“-Kamera (Electronic Viewfinder, Interchangeable Lens), die dem Stolz der Fotografen das schwere Spiegelsystem wegnimmt und durch einen schnöden elektronischen Sucher ersetzt.

Seit Panasonic und Olympus vor 18 Monaten die erste radikale Designwende seit der Erfindung der Spiegelreflex vorgestellt haben, eroberten die Evils in Japan bereits 17 Prozent des Markts für Wechselobjektivkameras. Und das ist erst der Anfang, glaubt Panasonics Kamerachef Ichiro Kitao: „In einem Jahr wollen wir als Panasonic in Japan einen Marktanteil von 20 Prozent erreichen und unseren weltweiten Absatz verdoppeln“, sagte er der WELT. Addiert man noch die ambitionierten Pläne von Olympus hinzu, könnte schon Anfang kommenden Jahres in Japan statt jeder dritten Spiegelreflex eine Evil verkauft werden. Auch weltweit dräut der Durchbruch: Im Januar hat Südkoreas Elektronikriese Samsung sein erstes Modell, die NX10, vorgestellt und angekündigt, den neuen Markt „besitzen“ zu wollen. Sony will bald folgen. Angesichts der geballten Marketingmacht der drei größten Elektronikkonzerne der Welt dürfte die Luft für Spiegelreflexkameras im unteren und mittleren Preissegment dünn werden.

Der Reiz des „Bösen“ hat schlichte Gründe. Erstens werden durch die Abschaffung des schweren und Platz raubenden Spiegelsystems Vorzüge von Spiegelreflexkameras mit denen der Kompaktkameras gepaart: Die neuen Kameras liefern eine volle Ansicht des realen Bildes im Sucher, austauschbare Objektive und eine bessere Bildqualität durch größere Sensoren als Kompaktkamera. Gleichzeitig sind gleichzeitig kleiner und leichter als Spiegelreflexkameras.

Bei dem von Panasonic und Olympus gemeinsam entwickelten Micro FourThirds-Standards halbiert sich der Abstand zwischen Objektivanschluss und dem Sensor beispielsweise durch den Wegfall des Spiegelsystems auf nur noch zwei Zentimeter. Dadurch schrumpfen nicht nur die Kameras, sondern auch die Objektive. Panasonics im März vorgestellte Lumix G2, die erste Kamera dieser Klasse mit Touchscreen-Bedienung, wiegt daher inklusive des mitgelieferten 14-42-Millimeter-Zooms (vergleichbar mit einem 28-84-Millimeter-Zoom im Kleinbildzeitalter) mit 593 Gramm deutlich weniger als ein iPad von Apple.

Canons ähnlich gepreiste EOS 550D bringt mit einem 18-55-Millimeter-Zoom 730 Gramm auf die Waage.

Zweitens gleichen die neuen Kameras in Aussehen und Bedienung immer mehr Kontaktknipsen an. Damit hoffen die Hersteller, wenig technisch versierte Hobbyfotografen, namentlich Frauen, denen die Spiegelreflexkameras zu kompliziert erschienen, zum Upgrade zu bewegen. Altherren des Analogzeitalters, also die Semester um und jenseits der 40, die Stolz und das Gefühl, zu einer Elite zu gehören, daraus saugten, die sperrige Technik zu beherrschen, mögen die Öffnung als Verdummung beklagen.

Fakt bleibt: Fotografieren wird wie Autofahren – einsteigen, einschalten, losfahren. Oder in die Sprache der Fotografie übersetzt: Die meisten Menschen wollen einfach schöne Fotos schießen, ohne erst viel an Knöpfen und Ringen Verschlusszeiten, Blenden und die Entfernung einzustellen. Programmautomatiken übernehmen das Denken. Apple hat diese Philosophie mit dem iPad auf die vorläufige Spitze getrieben. Die Bedienungsanleitung des Tablet-PCs besteht aus einer Seite.

Derweil die Kunden mit den Füssen abstimmen, führt die Fotografengemeinde ihren alten Glaubenskrieg leidenschaftlich fort: Ist die Evil so gut wie die Spiegelreflex? Wird die Spiegelreflex gar gänzlich aussterben? Gegner des Evil-Konzepts wenden ein, dass der elektronische Sucher nicht oder – im Falle von Sucherfundamentalisten – nie und nimmer mit dem optischen Sucher mithalten könne. Befürworter entgegnen, dass der Spiegel mit dem Ersatz des Films durch einen Bildsensor systemisch schon lange überflüssig geworden ist. Wie ein Blinddarm. Schließlich kann das Motiv durch den Bildschirm am Rücken des Apparats oder den elektronischen Sucher wie bei einer Spiegelreflex voll angeschaut werden.

Lange wagten die Kamerahersteller die Volldigitalisierung nur bei ihren Kompaktkameras, aber nicht bei ihren Flaggschiffen. Ein Grund dafür ist Besitzstandwahrung. Kleineren Herstellern fehlt es an Geld und Know-how. Und die Riesen des Spiegelreflexzeitalters Canon und Nikon verspüren kein gesteigertes Interesse an einer Revolution. Technik ist ein anderer Grund für das Zögern: Die Qualität der LCD-Sucher war bis vor kurzem schlicht zu lausig, die Bildwiedergabe grobkörnig und ruckelig. Helle Flächen wurden ausgewaschen, Farben verfälscht dargestellt. Doch vor allem nervte die Verzögerung, mit der das Bild über den Sensor durch die kamerainterne Bildverarbeitung auf den Bildschirm gelangte. Bewegte sich das Motiv sehr schnell durchs Bild, ist es im Unterschied zum optischen Sucher schon fort oder an einem anderen Ort, bevor der Fotograf überhaupt den Auslöser drücken konnte. Denn Licht, selbst wenn es mit Spiegeln und Prismen mehrfach um die Ecke gelenkt wird, reist immer noch viel schneller als Elektronen in Leitungen.

So blieb es dem Elektronikhersteller Panasonic vorbehalten, das Dogma zu brechen. Der Konzern war bis dato nur sporadisch im Spiegelreflexmarkt aktiv und hatte daher wenig zu verlieren. Die Japaner bewältigten den Sprung im September 2008 mit der G1 mit einer solchen Bravur, die selbst angesehenen Kamerabewertern Respekt abnötigte. Dies sei ein „wichtiger Moment in der kurzen Geschichte der Digitalfotografie“, schrieb die Website Dpreview.com, eine „Revolution“. Auslöser für die Euphorie war Panasonics Entschluss, der Massenware einen hochauflösenden Hightech-Sucher aus professionellen Filmkameras zu spendieren. Wenigstens unter guten Lichtbedingungen kam er im Auge der Tester als erster elektronischer Sucher nicht nur nahe an seine optische Gegenstücke heran. In einigen Punkten übertraf er sie sogar: Sein Bild ist beispielsweise so groß wie das der optischen Sucher in Profi-Full-Frame-Kameras, und damit deutlich größer als das von preiswerten Spiegelreflexkameras mit kleineren APS-Bildsensoren. Und natürlich lassen sich wie bei einer Kompaktkamera Live-Histogramm, Bilddaten und Hilfslinien ins Bild einblenden. Inzwischen bieten auch Olympus einen aufsteckbaren und Samsung in seinem Evil-Erstling NX10 hochauflösende Sucher an.

Gleichzeitig zeigen selbst die besten elektronischen Sucher, dass die Spiegelreflexkamera auf absehbare Zeit nicht gänzlich verschwinden wird. Trotz technischen Fortschritts griselt das Bild in dunklen Szenen. Und die Videoverzögerung ist zwar merklich geschrumpft, aber immer noch vorhanden. Sport- und Tierfotografen werden daher weiter zu Spiegelreflexkameras greifen. Genauso werden es Profifotografen tun, da die Objektivauswahl bei Evil-Kameras noch eingeschränkt ist. Als erster Hersteller wird Panasonic dieses Jahr die volle Spannweite vom Fish-Eye- bis zum Super-Tele-Objektiv abdecken. Aber robust genug für Profis ist keines.

In Asien verkaufen sich die neuen Kameras rasanter als in Europa und den USA. Doch letztlich dürfte es auch der Masse der Hobbyfotografen in den Industrienationen es immer schwerer fallen, sich dem Reiz des Neuen zu entziehen. Zu schnell sind die Elektonikhersteller mit ihren Ideen. Panasonic und Olympus verwandeln ihre Kameras durch die Einführung von fast lautlos fokussierenden Objektiven für ihre Evils die Fotoapparate auch für Normalkunden endgültig zu vollwertigen „Fodeokameras“. Denn nun fängt das Kameramikro im Videomodus kein „Srrsrr“ des Fokusmotors mehr mit ein. Samsung wiederum führt einen hellen Bildschirm aus organischen Leuchtdioden ein, der im Gegensatz zu LCDs keine Hintergrundbeleuchtung benötigt. Damit verbraucht er weniger Strom und lässt sich flacher bauen.

Den nächsten Schlag landet wieder Panasonic: Die G2 ist die erste Wechselobjektivkamera, die über einen ausklappbaren, berührungsempfindlichen Bildschirm bedient werden kann. Fotografen können das Bild zum einen durch einen Fingerdruck auf das gewünschte Motiv scharf stellen. Der Autofokus fixiert sich dann und verfolgt das Objekt, wenn es sich oder sich die Kamera bewegt. Zum anderen kann auch per Touchscreen ausgelöst werden. Im Test funktioniert es wirklich so einfach wie es sich anhört: Fingertipp auf das gewünschte Motiv, Autofokus stellt scharf, Kamera löst aus.

Touchscreen, eben!

Aus: Welt.de

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