Tokio wie es klingt und singt

Subventionen sind hier die beneidete Ausnahme: Dennoch boomt westliche Klassik in JapanWer in Tokio Gelegenheit hat, in der Bunka Kaikan hinter die Bühne zu schauen, der wird schnell ins Lächeln kommen. Im unumschränkten Reich der Szenenarbeiter der Opern- und Konzerthalle im Kulturpark Ueno sind für jedes berühmte Musiktheater der Welt kleine Erinnerungsschreine an die Wände geklebt, auf denen mehr Sängerstars als Sterne am Himmel abgebildet sind. Sie alle haben als virtuose Verzierung die teuren Gesamtgastspiele geschmückt, die in schöner Regelmäßigkeit die renommiertesten Opernhäuser zum offenbar unersättlich selbst die höchsten Eintrittspreise der Welt zahlenden japanischen Publikum brachten. Auch in der 1986 eröffneten, von einem Getränkekonzern finanzierten Suntory Hall am Herbert-von-Karajan-Platz – einem Innenhof im ersten Stock eines Bürokomplexes – geben sich mehr 1a-de-Luxe Gastorchester die viel bemühte Klinke am Bühneneingang in die Hand als selbst in der New Yorker Carnegie Hall.

Das ist bekannt, und deshalb ist der Zehn-Millionen-Großraum nach wie vor Traumziel aller westlichen Musiker, wenngleich längst nicht mehr ganz so große Gagen gezahlt werden, die Frequenz der Gastspiele geringer geworden ist und auch leere Plätze zum Konzertalltag gehören. Irgendwie geht es in dem hochverschuldeten Land weiter, die Lenkerrolle für die asiatische Wirtschaft wird angesichts der Konkurrenz China nicht aufgegeben.

Wie aber sieht der musikalische Alltag jenseits der luxuriösen Gastspiele aus? Vor hundert Jahren hatte sich das traditionsstolze Japan mit Vehemenz den abendländischen Einflüssen geöffnet. Von 120 Millionen Menschen fühlen sich heute ungefähr ein Prozent, also 1,2 Millionen, zur klassischen Musik westlicher Provenienz hingezogen.

Nicht weit von der Bunka Kaikan liegt die Tokyo Geijutsu Daigaku, die einzige staatliche Musikhochschule. Hier sind die Klassen voll und die Aufnahmeprüfung ist beinhart. Zwar hat man eben noch einen neuen Konzertsaal fertig bekommen, bevor Kürzungen wirksam wurden, aber für jeden Student ist die Schule Ziel aller Ausbildungswünsche. Poster westlicher Musikstars hängen in den schallisolierten Boxen, in denen unaufhörlich geübt wird; in der Flötenklasse, wo der Thermostank für die Instantsuppen bullert, scheint das aktuelle Fotoidol Emanuel Pahud, der Soloflötist der Berliner Philharmoniker, zu sein.

Wo sie unterkommen werden, wissen die Studenten nicht, ja, und es gibt hier auch Ausbildung an traditionell japanischen Instrumenten wie Laute und Harfe, irgendwo im Keller. Wer an der Geijutsu Daigaku nicht genommen wird, der kann – zu vierfach so hohen Studiengebühren – sein Glück an einer der acht privaten Hochschulen in Tokio versuchen. Hier freilich, etwa im schicken Neubau der Ueno Gakuen University musste man sich Marketingmaßnahmen einfallen lassen, um Studienwillige zu locken.

Eine der Professorinnen unterrichtet Cembalo und führt stolz die klimagekühlt museumsreife Sammlung alter Instrumente vor, darunter auch eines, das Händel gespielt haben soll. Sie bedauert, dass das von ihr mit ausgerichtete Tokyo Summer Festival 2006 nach 27 Spielzeiten eingestellt wurde. Es war eine der wenigen Konzertoasen für sperrigeres Programm. Hier sprangen Sponsoren als erstes ab.

Ansonsten ist der nach wie vor üppige Konzertmarkt auf gängige Titel eingestellt, die jeweils authentisch präsentiert werden: Wagner und Bruckner von deutschen Klangkörpern, Verdi vom Teatro Reggio aus Turin, Smetana von der Tschechischen Philharmonie. Dazu kommen hier möglichst bekannte Solisten, die Höchstpreise von über 300 Euro und trotzdem eine ausverkaufte Suntory Hall ermöglichen.

Etwa Midori beim Gastspiel des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Zwar geigt sie das Beethoven-Konzert so dünnflüssig zähsteif wie Kunsthonig, dass Mariss Jansons und die Seinen Mühe haben, die Zwischenräume zu füllen. Trotzdem gehen allein in den Pausen jeweils 300 Exemplare von der eigens für Japan vorabgepressten, später auch im Konzert zu hörenden Einspielung von Tschaikowskys 5. Sinfonie weg.

Das reicht allerdings nicht mehr. Man müsse sich längst in immer stärkerem Maße selbst um die (Fort)Bildung des Publikum so bemühen, so ein Mitarbeiter von Kajimoto, einer der der drei großen japanischen Konzertagenturen. In dem engen Wabenbüro an der glamourösen Ginza, wo inzwischen auch der boomende Klassikmark in China mit eigenem Büro in Shanghai mitbedient wird, entwickelt er pädagogische Strategien, für das Publikum von morgen. Dieses müsse, wie auch im Westen, eingesammelt werden, nicht mehr von selbst aus Bildungshunger kommt. Auch der flächendeckend musikgefüllte, im französischen Nantes erfundene „Folle Journée“ in einem Kongresszentrum wurde von Kajimoto nach Tokio importiert. Mit riesigem Erfolg.

Die lokalen Orchester bieten fast alle Jugendkonzerte an, versuchen sich in pädagogischer Aufbauarbeit, obwohl der Musikunterricht an den besseren Schulen flächendeckender scheint als in Deutschland. Doch im Schülerkonzert des Stadtbezirkes Minato, welches das Tokio Metropolitan Orchestra in der Suntory Hall ausrichtet – wie bis zu hundert in der Saison, wofür es als einziger Klangkörper von der Stadt finanziert wird -, geht es passiv zu: Der Dirigent erklärt, ein Stück wird gespielt, die Musiker führen Instrumente vor. Keiner darf sprechen, interaktiv ist hier (noch) nichts.

Die kleine, aber stabile, über gute Einkommen verfügende Klassik-Gemeinde ist also versorgt. Mit allen japanischen Eigenheiten. Die TV-Programme kümmern sich nur um Starevents, an Musikvermittlung mit Breitenwirkung sind sie nicht interessiert. Im Radio gibt es kaum Klassik, seit zwei Jahren versucht der kleiner Sender Ottava nach Vorbild des deutschen Klassik Radio mit Schnipselprogrammen abzuhelfen. Dafür hat einzig in Tokio Tower Records überlebt. Natürlich müssen auch hier „Holiday on Ice Classics“ und mit Adagios unterlegte Obama-Reden die Verkaufszahlen ankurbeln, auch „Nodame Cantabile“, ein multimedial ausgewerteter Comic, hat plötzliche Klassikbegeisterung hervorgerufen. Aber überall im Laden richten sich handgeschriebene Verkäuferempfehlungen an eine (noch) zahlreiche Kundschaft. Eine Vielzahl von dicken Klassikmagazinen berichtet zudem flächendeckend aus Europa und bereitet die Startourneen vor. Es gibt im engeren Stadtraum Tokios mindestens fünf sehr gute Konzertsäle plus die gleiche Anzahl kleinere Veranstaltungsorte für hochkarätige Kammermusik. In denen drängeln sich neben den Gastensembles (je nach Zählung) acht bis zehn professionelle Orchester, zehn weitere sind über die japanischen Großstädte verteilt. In Tokio konzertieren zudem 300 Laienorchester, im Dezember wurde 160 Mal Beethovens Neunte aufgeführt.

Die Profi-Klangkörper haben sich enorm gemacht, spielen flexibler, mit individuellem Klang, nichts mehr von asiatischer Mechanik. Neben dem Metropolitan Orchestra werden das NHK Orchestra von einem Fernsehsender und das Yomiuri Nippon Symphony Orchestra von einer Zeitungsgruppe finanziert; die anderen sind auf Sponsoren angewiesen. Die einen setzen auf japanische Dirigenten, andere auf ältere Ausländer wie Eliahu Inbal oder Stanislaw Scrowaczewsky. Seit das New Japan Philharmonic mit dem Österreicher Christian Arming als Chef unerhört erfolgreich ist, scheint sich der Trend umzukehren: Dies belegen die Verpflichtung von Hubert Soudant ans Tokyo Symphony Orchestra und des in Berlin kaum auffälligen Barenboim-Assistenten Dan Ettinger an das Tokyo Philharmonic Orchestra, das so groß ist, das ein Teil davon im New National Theatre (NNT) Operndienst versieht.

Das vor zehn Jahren eröffnete NNT wird als einzig subventioniertes Opernhaus angefeindet, aber seit Japaner aller Schlüsselpositionen übernommen haben, wird gerade hier deutlich, wie sehr sich nationale Sehgewohnheiten verändert haben. Während ausländische Opernhäuser in Tokio vorwiegend Tradition vorführen sollen, lädt man am NTT – man produziert nicht selbst, hat aber eigene Sänger – durchaus Modernes ein. Andreas Kriegenburgs bildmächtiger „Wozzeck“ unter Hartmut Haenchen, koproduziert mit der Bayerischen Staatsoper, wurde eben bejubelt.

Daneben spielen zwei weitere freie Truppen je vier Produktionen im Jahr. Selbst bei einem sehr ordentlichen, ganz mit Japanern besetzten „Capriccio“ der Nikikai Opera verlässt man sich nicht auf Konvention: am Ende wird die Gesellschaft des Ancien Regime (die teilweise den Judenstern trug) von Nazis abgeführt. Andernorts freilich erklingt – weiterhin unkommentiert – Richard Strauss‘ „Japanische Festmusik“ – geschrieben als NS-Auftragswerk zum 1000. Geburtstag der „Achsenmacht“.
Aus:Welt Online

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