Urlaubsflirt mit dem Tamagotchi

Die japanische Küstenstadt Atami mit ihren sonnigen Stränden und Thermalquellen ist seit langem ein El Dorado der Liebespaare. Der etwa hundert Kilometer südwestlich von Tokio gelegene Ort ist ein ideales Ziel für Wochenendausflüge und Flitterwochen. Doch inzwischen tummeln sich dort nicht mehr nur verliebte Paare, sondern zunehmend allein reisende junge Männer. Statt mit Freundin kommen sie in Begleitung ihrer iPhones, ausgestattet mit Applikationen für den virtuellen Flirt. Die Simulationssoftware, die das Handy in eine Art Mädchen-Tamagotchi verwandelt, hat sich in Japan zum Verkaufsschlager entwickelt.
Es ist ein drückend heißer Tag im August, als ein Reisebus am Strand von Atami hält. Mehr als ein Dutzend junge Männer steigen aus, alle halten iPhones in der Hand. Die Mädchen im Bikini, die sich am Strand sonnen, bemerken sie kaum. Stattdessen steuern sie auf eine Bronzeskulptur von Kanichi und Omiya zu, einem Liebespaar aus einer alten Legende der Stadt. Die Männer haben es dort auf einen Barcode abgesehen, mit dem ihre Smartphone-Kameras auf die Fotos Comicfiguren einblenden können.Möglich macht dies Augmented Reality (AR)-Software, also ein Programm zur Realitätserweiterung. „Es sieht aus, als sei ich auf einem Bild mit ihr“, sagt der 23-jährige Shu Watanabe und deutet aufgeregt auf sein iPhone-Display. Dort steht er neben Rinko, einer lächelnden Schönheit mit unschuldigem Augenaufschlag.
Dass Rinko nur digital existiert, stört Watanabe und tausende andere Fans des Computerspiels „Love Plus“ nicht. Seit seiner Markteinführung vor einem Jahr avancierte es nach Angaben des Marktforschungsinstituts Enterbrain mit 430.000 verkauften Exemplaren zum beliebtesten Dating Game in Japan.

Das Erfolgsrezept: Das Spiel zielt nicht mehr nur auf flüchtige Eroberungen, sondern entwickelt ein langfristiges Beziehungsszenario. Erschaffen hat die digitalen Träume die Firma Konami Digital Entertainment. „In Love Plus geht es darum, die Freundin gut zu behandeln und eine Beziehung aufzubauen“, sagt Sprecher Kunio Ishihara. Angelegt als Kommunikationsspiel, verfügt das Programm über einfache Stimmerkennungssoftware und eine Bildschirmverriegelung mit Echtzeitfunktion, so dass die Spieler laut Ishihara das Gefühl haben ihr Leben tatsächlich mit einer Freundin zu verbringen.
Das bedeutet auch, dass die virtuellen Girls zickig werden, wenn sie sich vernachlässigt fühlen und Zuwendung fordern bei Unwohlsein. Ende vergangenen Jahres machte das Simulationsprogramm Schlagzeilen, als ein 27-jähriger Japaner im Smoking und mit Priester seine Lieblings-Comicfigur Nene Anegasaki heiratete. Tausende verfolgten die Hochzeit des einsamen „Sal 9000“ online.

In Atami wurden nun 13 romantische Motive ausgewählt, die mit Rinko oder ihren Teenager-Freundinnen Manaka und Nene überlagert werden können. Statt ihrer üblichen Schuluniform im Matrosenlook tragen die Mädchen in dem Ausflugsort lässige Sommermode. Im Hotel Ohnoya können die virtuellen Pärchen in Zimmern mit Doppelfuton absteigen. Auch dort zaubert ein Barcode die digitale Freundin ins Zimmer, diesmal im figurbetonten Kimono.

Den Männern in Atami gefallen ihre Mädchen-Tamagotchis. „‚Love Plus‘ macht Spaß, weil die Beziehung immer hält“, sagt der Mittvierziger Naoyuki Sakazaki. Atami brachten die virtuellen Pärchen einen willkommenen Aufschwung, nachdem die Touristenzahlen zurückgegangen waren. Zunächst reagierten die Geschäftsleute der Stadt allerdings skeptisch auf die neue Klientel, weil sie das Computerspiel unmoralisch fanden. Ishihara aber reagiert empört auf solche Vorwürfe: „Ich denke, ‚Love Plus‘-Fans würden dies als Beleidigung ihrer Freundinnen auffassen.“
Aus:Sueddeutsche.de

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