Wie ist das zu verstehen, wenn zwei schwer übergewichtige Sumo-Kämpfer Babys stemmen und zwischen ihnen ein Priester herumwirkt, bis die Kinder schreien und weinen? Religiös natürlich: Mit dem Konaki Sumo findet derzeit in Tokio eines der bizarrsten Festivals Asiens statt.
Tokio/Hamburg – Auf Europäer wirkt die Szene bizarr: Da stehen sich zwei reichlich dicke, mit einer per Bauchbinde fixierten Windel bekleidete Männer gegenüber und jeder hat ein Baby im Arm. Die Sumo-Ringer lächeln freundlich, die Babys nicht minder, das Publikum sowieso: heiter bis volksfesthaft ist die Stimmung.
So kann das natürlich nicht weitergehen. Endlich kommt der Priester und hilft nach: Breit grinsend fixiert er die Säuglinge und schreit sie abwechselnd an, bis die Kinder weinen, als ginge die Welt unter. Ziel erreicht, die Mütter sind glücklich, das Publikum freut sich aufrichtig und so auch die Akteure – bis auf die Babys, versteht sich.
Willkommen in Tokio, wo am Wochenende das jährliche Konaki Sumo stattfand. Rund hundert Babys stellten sich auch in diesem Jahr einem befremdlichen Wettkampf, der auf Nicht-Japaner vor allem deshalb seltsam wirkt, weil er eine kräftige kognitive Dissonanz verursacht: Ein Unwohlsein darüber, dass sich Wahrnehmungen und gelernte Erkenntnisse hier einfach nicht miteinander vereinbaren lassen. Wieso hilft keiner den Babys? Warum beendet niemand diesen Zirkus? Wieso stehen im Publikum scheinbar nur Sadisten, die sich am Leid von Säuglingen erfreuen? Wieso verhaftet niemand den Priester, die Sumo-Ringer, die augenscheinlich verantwortungslosen Mütter?
Weil das alles natürlich nicht so gemeint ist, sondern dem Wohle der Kinder dienen soll. Ein schreiendes Kind, sagt ein japanisches Sprichwort, wächst schneller. Soll heißen: Je lauter der Brüller, desto besser die Zukunftsaussichten: „Naku ko wa sodatsu!“
Je lauter, desto gesünder
Und genau darum geht es: Schreien sollen die Babys alle, denn das kommt einer Segnung gleich – deshalb der Priester, deshalb die Sumo-Ringer und der seltsame Wettkampf im als gesegneter Grund wahrgenommenen Sumo-Ring.
Beim Konaki Sumo treten jeweils zwei Säuglinge gegeneinander an, was der Sache besonderen Pep verleiht. Solche Traditionen, in denen möglichst laut schreiende Babys auf dicke Sumoringer oder auf Priester treffen, die sie zum Weinen bringen wollen, finden sich rund ums Jahr an vielen Orten Japans. Das Konaki Sumo von Tokio, eines der größten Events, findet jedes Jahr im April statt, andere Nakizumo-Festivals („Sumo der Tränen“) finden rund um bekannte Heiligtümer und Shinto-Schreine zu jeder Jahreszeit statt.
Und auch zwischendurch kann man sein Baby schon mal auf diese Weise segnen lassen. Auf vielen Volksfesten gibt es Sumo-Ringer, die gern ein paar Säuglinge schütteln – sanft, versteht sich – oder Priester, die dem Nachwuchs erste religiöse Gefühle vermitteln (siehe Videos auf den Folgeseiten). Von bleibender Dauer sind diese kleinen Traumata aber offenbar nicht, denn die Atheistenquote liegt in Japan weit niedriger als in Europa.
Deutlich über 90 Prozent der Japaner nehmen in der einen oder anderen Form am religiösen Leben teil. Das können sie allerdings auch höchst informell, wie das Konaki Sumo zeigt: Das Religionsverständnis der Japaner ist weit lockerer und weniger institutionalisiert als bei den sehr formalisierten monotheistischen Religionen üblich. Einzelgötter sind eben oft eifersüchtig und verlangen die volle Aufmerksamkeit der Gläubigen sowie Einhaltung strenger Rituale, Götter eines Mehrgötter-Pantheons sehen das alles oft weit weniger verkniffen und erlauben ihren Anhängern Varianz und Auswahl.
So kann man auch in Japan problemlos zeitgleich mehreren Religionen anhängen, wenn man will, und sich Praktiken und Ritualen der einen oder anderen anschließen – in Japan meist aus dem Shintoismus oder Buddhismus. Und dazu gehört auch das Konaki Sumo, denn auch wenn das nicht so wirkt, ist es Teil eines Rituals, das sich zu einem Gebet für die Gesundheit des Babys summiert. Schrei, Baby, schrei!
Aus:Spiegel.de
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