"Wir sind fürs Meer geboren"

Tief unten glitzert der Pazifik silbern in der Morgensonne. Wie grün schimmernde Murmeln liegen die Inseln vor der zerklüfteten Küste Japans und werden immer größer. Wir landen in Nagoya, der mit rund 1,1 Millionen Einwohnern viertgrößten Stadt Japans. Die Metropole liegt in der Region Chubu in Zentraljapan. Dort, sagt der Mythos, haben die Götter begonnen, die Erde zu erschaffen. Seine Geburt verdankt der Archipel der Liebe zwischen dem Gott Isanagi und der Göttin Isanami. Von einer Brücke, dem Regenbogen, soll Isanagi eine Lanze in das Sumpfgebiet gestoßen haben. Wo sie auftraf, entstand die Insel Onogoro. Über die Lanze rutschte das Paar auf das Eiland.

Nach ihrer Vermählung gebar Isanami mit der Insel Awaji-shima ihr erstes Kind. Rund ein halbes Dutzend weitere Inseln folgten – bis Isanami bei der Geburt des Feuergottes verbrannte. So jedenfalls kennt Reiseleiterin Megumi Hattori den Mythos über die Entstehung ihrer Heimat, von der es verschiedene Versionen gibt. Die Wedded Rocks, zwei mit Tauen verbundene Felsen im Meer vor der Küste von Ise City, erinnern daran.
Japan ist reich an Mythen und Traditionen. Von den Wedded Rocks geht die Fahrt im Reisebus weiter ins Fischerdorf Osatsu in der Präfektur Mie. In dem Dorf leben 350 Familien. Neben dem Tourismus ist Fischfang die Haupteinnahmequelle für die Bewohner. Vom Meer leben auch die sogenannten Ama. Wörtlich übersetzt bedeutet das Meerfrauen. Die Ama sind Berufstaucherinnen, wie es sie nur noch in Korea und eben in Japan gibt.
Reiko Nomuro ist bereits 80, Tashiko Matsumoto 74. Mitsue Okano ist 65 und Shimoko Matsumoto mit 59 Jahren die Jüngste im Bunde. Frühmorgens steigen die vier Frauen im Neoprenanzug ins Wasser, schwimmen zur Nachbarinsel und tauchen dort ab: In bis zu zwölf Meter Tiefe suchen sie nach Seeigeln, Austern, Seeohren – ohne Druckluftflasche auf dem Rücken. Etwa eine Minute können sie unter Wasser bleiben. Ihre Beute, die sie mit dem Stemmeisen vom Felsen lösen, kommt in die Oke, einen schwimmenden Holzbottich. Dann geht es sofort kopfüber, Flossen in die Luft, wieder runter auf den Meeresgrund. Die Ama wissen genau, wo die Ernte am reichsten ist. Pro Tag tauchen die Frauen 140 Minuten. Mittags werden die Meeresfrüchte auf offenem Feuer in einer Fischerhütte gegrillt und Touristen serviert. Die Langusten kommen lebend auf den Rost– was zumindest Tierfreunden den Genuss der Köstlichkeiten verderben könnte.
Die Frauen sind stolz auf ihren Beruf. Sie wissen, dass sie die Letzten ihrer Zunft sind. Der Leiter des Meeres- und Volkskundemuseums bei Toba schätzt ihre Zahl insgesamt auf rund 4000. Das Durchschnittsalter der Frauen gibt er mit etwa 65 Jahren an. „In zehn Jahren ist der Beruf ausgestorben“, prophezeit der Museumschef. Der Grund, dass der jahrhundertealte Beruf ausstirbt, ist Nachwuchsmangel. Obwohl die Taucherinnen inzwischen Neoprenanzüge und nicht mehr wie früher nur weiße Baumwollkleidung tragen, ist die Arbeit jungen Frauen zu beschwerlich.
„Meine Tochter hat sich für einen Arbeitsplatz im Büro entschieden und taucht nur noch zum Spaß“, sagt Tashiko Matsumoto. Ihre Kolleginnen nicken. Die 74-Jährige, die aus einem Nachbarort stammt, wollte ursprünglich nicht Taucherin werden. Doch sie hat auf Geheiß der Eltern einen Fischer aus Osatsu geheiratet. „Da blieb mir gar nichts anderes übrig“, sagt sie. Aber sie liebe ihren Beruf. Ihre Kolleginnen haben schon als Kinder mit dem Tauchen angefangen – und wollen möglichst bis zu ihrem Tod dabeibleiben. „Wir sind fürs Meer geboren“, sagt Tashiko Matsumoto. Damit sie wohlbehalten von den Tauchgängen zurückkommen, beginnt der Tag der Taucherinnen um 7 Uhr morgens mit Gebeten vor dem Shinto- und anschließend vor der Buddha-Altar. Sie halten es wie viele Japaner: Obwohl sie Buddhisten sind, nimmt auch der Shintoismus, der Götterglaube, Raum im Denken ein – und umgekehrt. „Deshalb ergeben statistische Erhebungen, dass 70 Prozent der 127 Millionen Japaner Buddhisten und ebenfalls 70 Prozent Shintoisten sind“, lacht unsere Reiseführerin.Beim Abschied vom Ausflug in die nicht mehr lang existierende Welt der Ama winken und verbeugen sich die Taucherinnen unentwegt. „Wir geben nur Europäern die Hand. Ansonsten verbeugen wir uns und winken“, erklärt die Reiseleiterin. Gewinkt, dass stellt sich im Lauf der Reise heraus, wird immer: Der Koch winkt den Gästen nach dem Restaurantbesuch, und die Hotelmitarbeiter winken nach dem Auschecken. Und die Verbeugungen haben in Japan ihre eigene Sprache: Der Rücken muss immer durchgedrückt sein. Um 15 Grad neigt man sich vor Freunden und Bekannten, um 30 Grad vor dem Chef. Und um 45 Grad zur Entschuldigung. „Das ist fällig, wenn mein Mann abends mit Freunden beim Biertrinken versackt ist“, sagt Megumi Hattori und gesteht, dass sie sich selbst beim Telefonieren ständig verbeugt. „Das ist bei mir und vielen meiner Landsleute zum Automatismus geworden.
„Vom Pazifik geht die Reise ins Land, nach Korankei in der Präfektur Aichi. Der Park bei dem historischen Städtchen Asuke mit seinen rund 4000 Ahornbäumen leuchtet schon von weitem in kräftigem Gelb, Rot, Orange und Braun des Herbsts. Japan wie aus dem Bilderbuch. Vor allem Einheimische besuchen den Park. Die Attraktion für sie: Sobald die Sonne die Bäume nicht mehr beleuchtet und es dunkel wird, gehen unzählige Scheinwerfer an. Die Besucher streifen dann durch einen goldenen Märchenwald. Ziel der meisten: die Imbissbuden mit Nudel- und Reisgerichten, Suppen, Fleisch- und Fischplatten. Die Japaner essen gern und gut – und das Auge isst mit. Vor allem Fischliebhaber kommen auf ihre Kosten. Sashimi, roher Fisch, in allen Varianten gibt es morgens, mittags und abends. Dazu Reis und gekochten Fisch, dazwischen Misosuppe: Irgendwann sind sämtliche Gänge eines Menüs gleichzeitig auf dem Tisch, von allem wird abwechselnd probiert.Warum die Götter in Zentraljapan mit der Erschaffung der Erde begonnen haben, wird angesichts der Fülle der kulinarischen Genüsse schnell klar: In diesem Land lässt es sich auch leben wie Gott in Frankreich – und dabei so gesund, dass den Göttern zumindest im Mythos ewiges Leben garantiert ist.

Chubu

Share

Hinterlass eine Antwort